Dr. Peter Lock
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last updated:03.01.2011
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Redebeitrag zum Themenblock Kosovo[1]:
Die wirtschaftlichen Dimensionen und Beurteilung der Wiederaufbaustrategien

Stichworte: Migration, gescheiterte Strategie der Europäischen Union, transnationale Schattenwirtschaft, Notwendigkeit umgehender Integration Restjugoslawiens

Vom historischen Widersinn aktueller Politik

Sowohl Geschichte als auch wirtschaftliche Entwicklung Europas sind von Migration geprägt. Europäische Geschichte ist Migration. Erst die politische Manipulation von Nationalitäten wurde zum Quell bewaffneter Konflikte, die in der Regel zu erzwungener Migration (Bade, Europa in Bewegung) oder neuer "genetischer Kodierung" der Identität (Bobrowski, Levins Mühle) geführt haben. Deutschland ist, wie kein anderes Land in der jüngeren europäischen Geschichte, von Migration geprägt (Telefonbuch Deutschlands).

Die europäische Verfassung ist der kodifizierte Ausdruck des teuer bezahlten politischen Konsenses (u.a. zwei Weltkriege), dass bewaffnete Konflikte und Zwangsmigration Vergangenheit in Europa sein sollen. Während alle politische Aufmerksamkeit auf das Nein zur Verfassung in Frankreich und den Niederlanden gerichtet ist, wird übersehen, dass die deutschen Innenminister gerade einen sehr viel substantielleren Bruch dieses Konsenses verabschiedet haben, nämlich die zwangsweise Rückführung von "de jure Flüchtlingen" aus dem Kosovo, die de facto längst MigrantInnen im kontinuierlichen Strom europäischer Geschichte sind. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, die seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland sozialisiert sind.

Selbst wenn man sie jetzt zurückschickt, werden sie wieder zurückkommen. Entweder als verzweifelte illegale MigrantInnen, die keine Chance haben, "ihr" Leben in einem von mafiösen Strukturen geprägten und wirtschaftlich perspektivlosem Kosovo zu organisieren oder in der positiven Variante, Europa bleibt handlungsfähig und vollendet das Projekt der endgültig gewaltfreien Konfliktregelung in Europa durch die beschleunigte volle Integration des gesamten ehemaligen Jugoslawien, was die legale Migration und Rückabwicklung der anvisierten Deportationen von "de facto MigrantInnen", aber "de jure Flüchtlingen" bedeuten würde.

Europäische Heuchelei

Markt und wirtschaftliche Entwicklung benötigen rechtsstaatliche Rahmenbedingungen. Die politische Vorgabe der internationalen Verwaltung lautet, die Entwicklung demokratisch legitimierter und rechtsstaatlich verfasster Staatlichkeit auf schnellem Wege zu befördern. Dabei setzt sie auf ein Modell entwickelter Staatlichkeit und entsprechender sozialstaatlicher Normen, das in einem langen Prozess in Europa erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts voll zum Tragen kam. Die bei der derzeit versuchten Durchsetzung entstehenden Kosten stehen weder in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag noch wird es auf lange Frist möglich sein, dass diese Staatsverfassung von der Volkswirtschaft dieses Gebietes eigenständig getragen werden kann. Es wird zudem häufig übersehen, dass auch für Staatlichkeit "economies of scale" gelten und kleinterritoriale Staatlichkeit bei gleicher Steuerlast entsprechend weniger leistungsfähig ist.

Ebenso ist es heuchlerisch und bestraft die gesamte Generation junger Menschen, dass politische und wirtschaftliche Zugeständnisse an eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen geknüpft werden. In Deutschland hat es deutlich über 20 Jahre gedauert, ehe die deutsche Justiz damit begann, umfassend die Verbrechen während des NS-Regimes strafrechtlich zu bearbeiten. In Frankreich hat es noch länger gedauert, bis die Verbrechen während des Vichy-Regimes wenigstens in einigen Fällen strafrechtlich angegangen wurden. In beiden Fällen war eine wirtschaftliche Konsolidierung Voraussetzung für den strafrechtlichen Blick auf die eigene Vergangenheit.

Der lange Vorlauf der Schattenstaatlichkeit

Die Vokabel Wiederaufbau ist irreführend, denn bereits vor dem Exodus der Bevölkerung und dem NATO-Krieg gegen das Milosovic-Regime in Restjugoslawien war der Kosovo eine wirtschaftliche Notstandsregion, die von informellen und kriminellen schattenökonomischen Verhältnissen geprägt war. Nur in diesem Kontext konnte die albanische Bevölkerung erfolgreich gegen die serbische Diskriminierung Widerstand leisten.

Die aktuelle Verfassung (Zustand) der kosovaischen Gesellschaft ist vor allem dem langanhaltenden wirtschaftspolitischen und integrationspolitischen Versagen der Titodiktatur geschuldet. Die lange Jahre legale Arbeitsmigration vor allem nach Westeuropa und nach der Abschließung der dortigen Arbeitsmärkte die illegale Migration haben die ökonomischen Struktur der Provinz zu einem hybriden transnationalen Gebilde werden lassen, in dem Rücküberweisungen von Migranten und leistungsfähige transnationale schattenökonomische Netzwerke eine zentrale Bedeutung spielen. In der Czempielschen Terminologie wäre das Land Kosovo nahezu vollständig in der internationalen Gesellschaftswelt und nicht in der Staatenwelt zu verorten, eine Art staatsfreie Zone, in der eine internationale Verwaltung weitgehend ein Eigenleben führt. Letztere generiert vor allem Nachfrage nach qualifizierten (Dolmetscher etc.) und kriminell organisierten Dienstleistungen (der UN-friedensmissionstypische "Trail of Prostitution" produziert einen "windfall profit" für die "Paten" der gegenwärtigen kosovarischen Strukturen). Die enormen Kosten dieses "Peacekeeping" können auf Dauer nicht aufgebracht werden. Vor den Folgen dieses Sachverhaltes kapituliert die Politik und ist bislang nicht im Stande alternative Szenarien zu denken.

Kosovo: ohne Chance

Eine albanisch-nationale Eigenstaatlichkeit hat geringe Chancen sich in Richtung eines Sozialkontraktes der Bevölkerung zur steuerlichen Alimentation einer Staatlichkeit zu entwickeln, die Rahmenbedingungen für reguläre wirtschaftliche Entwicklung bieten würde. Zwar hatte die albanisch-stämmige Bevölkerung in der Gewalt meidenden Auseinandersetzung mit der serbischen Staatsmacht vor der NATO-Intervention u.a. das öffentliche Gut Erziehung auf der Grundlage eines informellen Steueraufkommens der Diaspora erbracht, jedoch hat sich diese dynamische Vorform leistungsfähiger Staatlichkeit im Kontext der quasi-kolonialen Neustrukturierung verflüchtigt und sich bestenfalls in großfamiliäre Solidaritätsnetzwerke zurückentwickelt. Vieles spricht dafür, dass sich ein Netz krimineller Kontrolle über die vorherrschende Informalität kosovo-albanischer transnationaler Identität und der damit verbundenen Existenzsicherung auf der Ebene familiärer Loyalitäten gelegt hat.

Geht man von den wirtschaftlichen Gegebenheiten aus, so sind die Chancen minimal, dass die in der EU formulierte Erwartung einer Entwicklung eintritt wird, die mittelfristig die Beitrittskriterien erfüllen würde. Die wirtschaftliche Entwicklung steht unter dem Diktat neoliberaler Regulation der Märkte und der Finanzen, was offene Märkte zwingend erfordert und damit u.a. zur Marginalisierung der lokalen landwirtschaftlichen Produktion führt. Wenn man aber die Ressourcenausstattung, dazu gehören u.a. Humankapital, Marktnähe des Standortes oder ein besonderes Klima für landwirtschaftliche Spezialisierung, und den Standort im Hinblick auf eine erfolgreiche, d.h. wettbewerbsfähige Teilnahme an weltweiter Konkurrenz von Waren und Dienstleistungen betrachtet, dann wird schnell deutlich, dass ein Nationalstaat Kosova keine Chancen hat, seiner Bevölkerung reguläre Beschäftigung in international konkurrenzfähigen Sektoren zu bieten. Bilanziert man das unter der kosovo-albanischen Identitätsgruppe verfügbare Humankapital, so wird rasch deutlich, dass der leistungsfähigere Teil der Bevölkerung überwiegend legal und illegal in der Diaspora lebt. Diese Menschen haben wenig Anreize, wieder in die ideologisch noch als Heimat empfundene Region zurückzukehren. Sie leben eine postmoderne transnationale Identität, überwiegend in Europa.

Ausschluss ohne Perspektive

Die Vorgabe der Europäischen Union lautet, dass sich die verschiedenen politischen Entitäten, die aus dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien entstanden sind bzw. im Falle des Kosovo sich zu eigenständiges Staatgebilde entwickeln wollen, sich anzustrengen hätten, um die strengen Kriterien eines Beitritts zu erfüllen. Bis dahin müssen Kosovo und Serbien sich in weitgehender Abschottung von Europa organisieren. Es lässt sich unschwer prognostizieren, dass ein solches Unterfangen nicht zum Ziel führen wird.

Es ist notwendig endlich zu erkennen, dass dieser Raum zu Europa ohne wenn und aber gehört und dass Migration im Interesse aller Seiten ist. Denn zum einen schafft die gegenwärtige, von der EU praktizierte Abschottung alleine zusätzliche Chancen auf den kriminellen Märkten der Schattenökonomie, ohne die faktische (illegale) Migration wesentlich zu beschränken. Durch das gegenwärtige Paradigma der Abschottung der EU-Politik wird allein die Kriminalisierung der Migration befördert, nicht aber die Migration verhindert. In ihrer Ausgeschlossenheit von Europa dürfte sich die Selbstwahrnehmung nicht wesentlich von der Befindlichkeit der Bevölkerung der DDR angesichts des Reiseverbotes unterscheiden. Nur das diesmal die Vorzeichen umgekehrt sind und die Diskriminierung und Abschottung in der EU ihren Ausgangspunkt hat.

Sofortiger Integrationsbeginn ohne Alternative

Die Rückbesinnung auf den historisch belegten Sachverhalt, dass Migration sich immer als Wachstumsfaktor bewährt hat, stünde der EU gut an. Nur so ließe sich eine realitätstüchtige Perspektive demokratischer Staatlichkeit in der von Serbien noch immer beanspruchten Provinz Kosovo entwickeln. Die EU muss sich der Migration öffnen und vor allem jungen Menschen eine Chance bieten. Die Größenordnung dieses Zustroms in die EU ist ökonomisch unproblematisch und im Hinblick auf die Altersstrukturen innerhalb der EU dringend geboten. Die gegenwärtige Politik der Abschottung und Zwangsrückführung ist Ausdruck der historischen Blindheit der politischen Eliten in Europa und ihres schamlosen Opportunismus im Kampf um die Regierungsgewalt.

Weiterhin ist es notwendig, über eine Abweichung von der regulativen Orthodoxie des Neoliberalismus nachzudenken. Es böte es sich an, einen gemeinsamen geschützten Binnenmarkt für die von Europa noch ausgeschlossenen Territorien des ehemaligen Jugoslawien und Albanien zu schaffen, auf dem Beschäftigung ein zentrales Ziel ist. Denn ohne die horrende, verstärkt die jüngeren Generationen treffende Arbeitslosigkeit durch Migration in die EU und Beschäftigung vor Ort zu überwinden, bleibt der Westbalkan, einschließlich des Territoriums Kosovo ein Dampfkessel, der früher oder später weitere gewaltgeprägte Katastrophen generieren und zum Ausbau transnationaler krimineller Netzwerke beitragen wird. Mit einem leistungsfähigen Binnenmarkt würde mit der Zeit die emotionale, politische Wertigkeit von Eigenstaatlichkeit an Bedeutung verlieren. Die Attraktivität eines offenen Europa würde ebenfalls dazu beitragen, dieses schwarze Loch in der europäischen Landkarte endlich zu beseitigen. Ohne diesen Schritt bleibt Europa ein opportunistisches Projekt ohne historische Perspektive.

Fußnoten

[1]1.Hammelburger Kongress "Politik und Krisenprävention" 15.-17. Juli 2005