Dr. Peter Lock
European Association for Research on Transformation e.V.

Vom Wandel bewaffneter Konflikte und Kindern

Kinder und Gewehre

Mit Schrecken nehmen wir die Bilder von 10-12 jährigen Jungen zur Kenntnis, die eine automatisches Gewehr in der Hand halten und offensichtlich gewillt sind, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Zur Zeit erreichen uns solche Bilder vor allem aus Afrika. Der spontane Impuls, man möge vor Ort sein, und dem Kind die Waffe entreißen, erstarrt umgehend, weil erkennbar ist, daß diese Kinder sich ohne Bedenken mit ihrer Waffe dagegen zu Wehr setzen würden. Was wir sehen, sind unschuldige Mörder, die unserer Solidarität bedürfen, um sie aus der mörderischen Handlungslogik zu befreien, in die sie offensichtlich getrieben worden sind und an der sie nicht selten spontane Befriedigung finden. Selbst wenn es gelingt, diese Kinder von ihren Gewehren zu trennen, ist dies daher nur ein erster Schritt auf einem langen Weg, diesen Kindern soziale Normen zu vermitteln, die es ihnen erst ermöglichen werden, eine konstruktive Rolle in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu übernehmen.

Die zunehmenden Berichte über die Entwicklung von Kriegen, politischer und krimineller Gewalt aus den letzten Jahren deuten daraufhin, daß Kindersoldaten keine auf die sog. Befreiungsbewegungen in der Endphase des Kalten Krieges beschränkte Erscheinung sind. Denn aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen erreichen uns Bilder mit waffentragenden Kindern und Berichte über brutale von Kindern und Jugendlichen mit Handfeuerwaffen verübte Gewalttaten und Morde. Indizien vieler Art deuten darauf hin, daß der Ausbreitung von waffentragenden Kindern, gleich ob als sog. Soldaten oder kriminelle Gewalttäter, sehr allgemeine sozialstrukturelle und wirtschaftliche Entwicklungen zugrunde liegen. Es sind fast immer ökonomisch ausgegrenzte Segmente der Gesellschaften oder langanhaltende Bürgerkriege, aus denen heraus Kinder in die Rolle von Gewalttätern hineinwachsen.

Um gegebenenfalls vorbeugend und nicht nur reaktiv tätig werden zu können, müssen zunächst die Ursachen und Muster dieser Gewaltausbreitung aufgespürt werden. Hierbei dürfte es sich um überwiegend makrostrukturelle Bedingungen handeln, die nur langfristig beseitigt werden können. Humanitäre Hilfe erfordert jedoch immer auch unmittelbares Handeln. Sie kann durchaus auch ohne volle Kenntnis der Zusammenhänge dann wirksam sein, wenn sie kommunitäre Organisationsformen unterstützt. Denn die von bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen müssen ihre in der regulären Wirtschaft freigesetzte Arbeitskraft wohlfahrtsfördernd und solidarisch einsetzen können und so auf lokaler Ebene gesellschaftliche Parallelstrukturen zur global integrierten Wirtschaft entwickeln, die ein Überleben sichern und ein Selbstwertgefühl vermitteln. Wenn spontane humanitäre Hilfe dies im Auge behält, ist sie weitgehend davor gefeit, konterproduktiv zu wirken. Vor allem die Resozialisation und ökonomische Reintegration von Kindersoldaten kann nur in einem Umfeld lokaler kommunitärer Solidarität erfolgen. Denn in Programmen weltmarktorientierter Restrukturierung von Ökonomien ist für "kriegsgestörte" Jugendliche kein Platz, sie bleiben ausgegrenzt, werden aber mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Art der Teilhabe gewalttätig einfordern, wenn ihre kommunitäre Eingliederung nicht gelingt.

Gleichwohl soll im folgenden Text vorrangig der Wandel ausgeleuchtet werden, der den Charakter gewaltförmiger Konflikte im Kontext globaler Prozesse verändert.

Internationale Normen bleiben ohne Wirkung

Das mühsam entwickelte Kriegsvölkerrecht ist der Versuch, Kriege, wenn sie schon nicht vermeidbar sind, zu zivilisieren, d.h. Kriegsakte durch einen rechtlichen Rahmen einzugrenzen. Sowohl die Genfer Konvention von 1948 als auch die Kinderrechtskonvention, die 1989 in Kraft trat, bieten rechtlichen Schutz für Kinder in bewaffneten Konflikten[1]. Staaten sind verpflichtet, sich an diese Rechtsnormen zu halten und ihnen allgemein zur Durchsetzung zu verhelfen. Die relative Wirkungslosigkeit dieser Kinderschutznormen liegt vor allem darin begründet, daß wir es heute fast ausschließlich mit innergesellschaftlichen Konflikten zu tun haben, in denen die Autorität des Staates, Normen durchzusetzen, von einer oder mehreren Pateien mit Gewaltmitteln in Frage gestellt wird. Eine weitere Schranke ist die mangelnde Bereitschaft anderer Staaten oder der Vereinten Nationen sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, um die Einhaltung völkerrechtlicher Normen, in diesem Fall des Kinderschutzes, durchzusetzen.

Vor allem bis zum Ende des Kalten Krieges war Einmischung zugunsten allgemeiner Menschenrechte fast ein vollständiges Tabu. Es wurde wechselseitig durch das Veto im Sicherheitsrat aufrechterhalten. Hingegen war konkurrierende Parteinahme in Konflikten die Regel, die so Teil der globalen Systemkonkurrenz wurden.

Aber auch nach dem Ende der bi-polar strukturierten Welt fehlt es den Vereinten Nationen an den notwendigen Instrumenten, um bei schweren Verletzungen des Völkerrechts wirkungsvoll einzugreifen. Diejenigen Staaten, die in der Lage wären, entsprechende Mittel militärischer, aber auch nicht-militärischer Art bereitzustellen, sind selbst in Fällen von Völkermord nicht geneigt, den Vereinten Nationen beizuspringen. In Ruanda mußten sich die Vereinten Nationen mangels militärischer Handlungsfähigkeit zurückziehen, als der Völkermord in seine intensive Phase überging.

Probleme, die Beachtung allgemeiner Menschenrechte durchzusetzen, verschärfen sich jedoch weltweit dadurch, daß der Staat als Träger von Rechtsordnungen in vielen Teilen der Welt in eine Krise geraten ist und in extremen Situationen nur noch auf dem Papier existiert. Oder schlimmer, die Symbole des Staates verkommen zu einer Fassade krimineller Bereicherung, die sich auf Korruption und willkürliche Gewalt stützt.

Gewalt als Reaktion auf ökonomische Krisen: Kinder als Akteure und Opfer

Viele Staaten haben nur noch eingeschränkte Fähigkeiten das Gewaltmonopol durchzusetzen und die physische Unversehrtheit ihrer Bürger zu schützen. Wenn parallel dazu große Teile der Bevölkerung ökonomisch ins völlige Abseits abgedrängt werden, dann ist dies die Hefe für die beschleunigte Entwicklung einer wuchernden illegalen Wirtschaft. Gewalt und Androhung von Gewalt werden unter solchen Bedingungen zu einem Regulativ im Wirtschaftskreislauf. Konkurrierende private Sicherheits- und Überlebensvorsorge als Abwehr dagegen entwickelt sich zu einer innergesellschaftlichen Aufrüstungsdynamik, die von populistischen Politikern angeheizt wird. Kinder aus dem "Abseits" werden häufig zur Ausübung von kriminellen Gewaltakten angestiftet, die schleichend zur ihrer Lebenswelt werden. Weil die Gesellschaft in derart instabilen Momenten keine konstruktive Rolle, d.h. keine Ausbildungs- oder Arbeitsmöglichkeit anzubieten hat, ist es leicht, Kinder und Jugendliche als Handlanger der Gewalt und als Akteure in der illegalen Wirtschaft, anfangs vor allem im Drogenhandel, zu mißbrauchen.

Kommt es in derartigen latenten Gewaltsituationen zu ideologischen Aufladungen setzt eine Gewalteskalation ein, die rasch die Schwelle zu kriegerischer Gewalt erreichen kann. Dort werden vorzugsweise Kinder wegen fehlender normativer Sozialisation als Schock- und Terrortrupps in der vordersten Linie mißbraucht. Auf sich selbst gestellt (Straßenkinder) stehen sie schutzlos zur Verfügung, denn das Elend hat die Familie als schützende Instanz längst aufgelöst.

Der gegenwärtige zu beobachtende Typ Kindersoldaten entsteht aus gewaltförmig geregelten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen heraus, in denen weder Staat noch Gegenstaat eine hinreichende Rechtssicherheit für einen überwiegend marktregulierten Wirtschaftskreislauf bieten. Daher muß eine Bearbeitung des Problems die für den Zerfall von Staatlichkeit und damit Rechtssicherheit bestimmenden Faktoren einbeziehen.

Bei genauerer Betrachtung wird rasch deutlich, daß es den idealtypisch marktregulierten Wirtschaftskreislauf ebenso wenig gibt, wie eine nur durch Raub und Kriminalität regulierte Wirtschaft. Mit anderen Worten, strukturell bedingte Gewaltakte von Kindern und Jugendlichen sind keine auf exotische Bürgerkriegsländer beschränkte Erscheinungen. Sie findet man in der "inner city" der Vereinigten Staaten ebenso wie in Mexico oder Südafrika, in Warschau, Bukarest oder Neukölln. Die Organisationsform ist die Gang. Der Unterschied liegt in der Bewaffnung und im qualitativen Umschlag von Quantität, der Transformation vom "gang leader" zum "warlord".

Aber die Kindersoldaten sind nur eine besonders tragische Gruppe der Kinderopfer in Kriegen. Seit die Parteien des Kalten Krieges aufgehört haben, konkurrierend jedweden gewaltsamen Konflikt zu ursurpieren und damit den Anspruch auf Staatlichkeit aller Kriegsparteien mit Waffen und wirtschaftlicher Hilfe zu fördern, scheint eine neue Unordnung mit zahlreichen gewaltsamen innergesellschaftlichen Konflikten zu expandieren. Diese kriegerischen Konflikte sind meist von langer Dauer. Sie werden auf eher niedrigem Niveau ausgetragen. Kleinwaffen sind das vorherrschende Kampfmittel. Allerdings werden Normen des Kriegsvölkerrechts systematisch mißachtet, das gilt besonders für den Schutz der Zivilbevölkerung. Die Kriegsführung ist entgrenzt und grausamste Formen personaler Gewalt bestimmen das Konfliktgeschehen. Der verantwortungslose Einsatz von Minen, Vergewaltigungen und wahllosen Morden als Mittel der Kriegsführung und absolute Disziplinlosigkeit der Kämpfenden gehören zu den Merkmalen des gegenwärtig vorherrschenden Kriegstyps. Die Zivilbevölkerung ist vorrangiges Opfer der gegenwärtigen Kriege. Als Folge von Bürgerkriegen gibt es weltweit knapp 14 Millionen Flüchtlinge, die Aufnahme in anderen Ländern gefunden haben. Noch größer ist weltweit die Zahl der Inlandsvertriebenen durch bewaffnete Konflikte. Nach Schätzungen des amerikanischen Flüchtlingskomitees waren es Ende 1996 knapp 20 Millionen. Kinder und Frauen sind die Hauptbetroffenen. Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge sind in aller Regel so schlecht, daß Kinder weder für eine Lebensrolle durch Schule und Berufsausbildung ausgebildet werden, noch bieten sich ihnen Chancen für eine Erwerbstätigkeit in der regulären Volkswirtschaft. Kriegsflüchtlingskinder bilden mehrheitlich eine entwurzelte Gruppe, die strukturell alle negativen Voraussetzungen bietet, das Menschenmaterial für einen neuen Zyklus gewaltförmig regulierter Wirtschaftkreisläufe abzugeben. Schritte zur Verstetigung von innergesellschaftlichen Kriegen bereiten sich so in den weltweiten Flüchtlingslagern vor.

KKK — Kinder, Kleinkriege, Kleinwaffen

Kinder waren immer Opfer und Leidtragende in Kriegen, aber erst der veränderte Charakter gegenwärtiger Kriege hat Kinder in die Doppelrolle von Akteur und Opfer gebracht. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, daß schweres Gerät immer weniger zum Einsatz kommt, obwohl die letzten beiden Dekaden des Kalten Krieges durch weltweite Überrüstung mit modernem Großgerät gekennzeichnet waren. Seit dem Ende das Vietnamkrieges sind es vor allem Kleinwaffen, die das kriegerische Geschehen weltweit bestimmen und eine verheerende Blutspur erzeugen, die nicht selten die Dimension von Massenvernichtung erreicht.

Sieht man von der Konfrontation mit dem vormals unter der Devise »meines Feindes Feind ist mein Freund« allseitig geförderten diktatorischen Regime im Irak ab, so sehen sich die waffenstarrenden militärischen Führungsmächte in der Regel mit Konfliktszenarien konfrontiert, die sich dem Einsatz des Arsenals von überlegenen Massenvernichtungswaffen entziehen.

Die Bombardierung panamesischer Slums mit milliardenteuren Stealthbombern zur Entmachtung des Präsidenten, der das Land vorgeblich zu einer Drehscheibe des internationalen Drogenhandels gemacht hatte, ergab militärisch keinen Sinn. Es war vielmehr ein zynischer Test- und Demonstrationsflug, um die Geldgeber im amerikanischen Kongreß weiter an das bis dahin weitgehend geheime Projekt zu binden, dessen strategische Begründung mit dem Ende des Kalten Krieges wegzufallen drohte. Der zweite Golfkrieg wiederum war eine zynische Demonstration imperialer Hochtechnologie. Der amerikanische Fehlschlag in Somalia und die russische Niederlage haben bestätigt, daß die aktuellen Konfliktszenarien unterhalb des Einsatzspektrums jener überlegenen Technologie liegen.

Die militärischen Führungsmächte richten seit über 20 Jahren ihre politischen Energien auf widersprüchliche Ziele. Sie wollen einerseits die Ausbreitung strategisch einsetzbarer Waffen kontrollieren, andererseits soll das Rüstungsexportgeschäft mit ihrer jeweiligen Klientel gefördert werden. Der Kleinwaffenbereich wurde hingegen zur verdeckten Sicherung von Einflußsphären bzw. zur Störung gegnerischer Absichten skrupellos instrumentalisiert. Dabei sind Transfernetzwerke mit Zwischenhändlern in den Grauzonen illegalen Handels entstanden, die sich mit dem Abbruch der Ost-West- Konfrontation keineswegs in Luft aufgelöst haben. Sie haben sich auf neue Märkte und Lieferanten orientiert.

Zusätzlich haben nach 1989 zahlreiche Streitkräfte damit begonnen, sich überschüssigen Kriegsmaterials zu entledigen. Je geringer ihre strategische Bedeutung, um so unkontrollierter werden diese überschüssigen Waffen feil geboten oder gar verschenkt. Während man große Waffen schon mal unbrauchbar macht, wenn es keine Abnehmer gibt, werden militärische Ausrüstungen und Kleinwaffen als Restposten zu Schleuderpreisen abgegeben. Die Öffentlichkeit erfährt selten von diesen Transfers. Zwar wird dieses Kriegsgerät beinahe ausnahmslos nur an Staaten bzw. deren Streitkräfte direkt trans- feriert, aber es gibt immer häufiger Indizien, daß sie von dort ihren Weg zu den parastaatlichen Konfliktparteien in den zahlreich geführten Bürgerkriegen finden.

Das Kalashnikov-Gewehr ist zum Synonym für Kleinwaffen geworden, obwohl Gewehre von FN-Herstal, Heckler & Koch und amerikanischen Herstellern wie Colt mindestens ebenso verbreitet sind. Einfach formuliert sind Kleinwaffen alle Waffen, die im großen Reisegepäck Platz haben. Die Spannbreite reicht von einfachen Handfeuerwaffen bis hin zu panzerfaustartigen Raketen. Gemeinsames Merkmal aller Kleinwaffen ist, daß ihr Einsatz keine Logistik und komplexe Wartung benötigt und daß sie in der Regel weitgehend unbemerkt an ihren intendierten Einsatzort verbracht werden können. Eine komplizierte Einweisung in ihre Benutzung ist nicht notwendig. Ihr Besitz vermittelt unmittelbar ein Gefühl von Potenz. Dort wo Kleinwaffen das Konfliktszenario bestimmen, werden Kinder rekrutiert und zynisch wegen noch nicht entwickelter Hemmschwellen gegenüber dem Töten als Schocktruppen eingesetzt, die Terror verbreiten und Angst auslösen sollen.

Am oberen Rand des Spektrums sind einige Kleinwaffen mit komplexer Technologie ausgestattet, die die Herstellernationen kontrollieren, aber gezielt an bevorzugte Klientel weitergegeben haben. Inzwischen jedoch haben die Lieferanten in einigen Fällen, dem Zauberlehrling Goethes gleich, die Kontrolle über ihre Klientel und damit über diese gefährlichen Waffen verloren. Die in Afghanistan zum Handelsobjekt gewordene amerikanische Boden-Luft-Rakete Stinger eignet sich bestens für Terroranschläge gegen die zivile Luftfahrt. Aus diesem Grunde bemüht sich der amerikanische Geheimdienst CIA im Wettlauf mit terroristischen Organisationen um einen Rückkauf der außerhalb Afghanistans vagabundierenden Stinger-Raketen.

Die Angebotsseite des Waffenmarktes

Die Preise für militärisches Gerät und vor allem für Kleinwaffen sind im Keller. Sie sind so sehr im Keller, daß auf grauen und schwarzen Märkten die Preise für automatische Gewehre deutlich unter den Produktionskosten liegen. Für Hersteller in Westeuropa beschränkt sich der Markt auf magere Ersatzbeschaffungen bei wenigen Streitkräften. Einige Hersteller haben die Produktion aufgegeben. Andere, zum Teil mit großer Tradition, sind im Rahmen einer europäischen Konsolidierung der Produktionskapazitäten durch Übernahme vor den Konkurs bewahrt worden. Der schwäbische Hersteller Heckler & Koch, lange eine globale Größe und aggressiver Lizenzgeber, ist von Royal Ordonance (und damit British Aerospace) vor dem Aus bewahrt worden. Der berühmte belgische Hersteller von Gewehren FN-Herstal (FAL-Gewehre sind in über 80 Staaten im Einsatz) ist nach zwei Vergleichen und Unterstützung durch die Regierung vom staatlichen französischen GIAT-Konzern übernommen worden. Inzwischen will GIAT den Konkurs des erst vor kurzer Zeit erworbenen Unternehmens anmelden, während sich die belgische Regionalregierung noch um die Gründung einer Auffanggesellschaft bemüht.

Im Falle osteuropäischer und russischer Hersteller, die verzweifelt als staatlich protegierte Betriebe nach einem Überleben suchen, kann man eine Bereitschaft unterstellen, auch auf grauen und schwarzen Märkten zu operieren und Produkte unter dem tatsächlichen Kostpreis weiterzureichen. Allerdings stehen sie auf den illegalen Märkten in Konkurrenz zu den Arsenalen der Streitkräfte, die von denjenigen, die jeweils Zugriff darauf haben, ständig auf "marktfähige", d.h. illegal verkäufliche Lagerbestände durchleuchtet werden.

Für die Industrienationen in West und Ost gilt, daß Produktionsanlagen endgültig stillgelegt werden, weil keine kaufkräftige Nachfrage in Sicht ist. Gleichwohl besteht die akute Gefahr, daß der nicht mehr benötigte Maschinenpark dorthin exportiert wird, wo nationalistische Militärs Politik und Wirtschaft kontrollieren oder isolierte Regime eine militärische Autarkie anstreben[2].

Der überwiegende Teil des Angebotes kommt heute aus den Beständen von Streitkräften. Das Spektrum der Transferformen reicht von zwischenstaatlich vereinbarter Abgabe von Surplusbeständen bis zu Diebstahl und Veräußerung durch Angehörige der Streitkräfte. Das Ende des Kalten Krieges hat große Waffenbestände freigesetzt, die die grauen Märkte alimentieren.

Zum Beispiel Deutschland

Betrachten wir den Fall der deutschen Surpluslieferungen an die Türkei. In Zeiten des Kalten Krieges gab es einen deutsch-amerikanischen Konsens innerhalb der NATO, die Südflanke durch Unterstützung Griechenlands und der Türkei militärisch zu stärken. Beide Staaten haben im Verlauf von 20 Jahren große Mengen militärischer Güter kostenlos oder hochsubventioniert erhalten. Außerdem erhielten sie Unterstützung beim Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Mit dem Ende des Kalten Krieges (und damit des eigentlichen Anlasses für militärische Ausrüstungshilfe) sind die Waffenströme - besonders in die Türkei und nach Griechenland - noch einmal angewachsen. Ein amerikanischer Forschungsbericht notiert im Dezember 1993, daß sich die USA und ihre NATO-Verbündeten seit 1990 verpflichtet hätten, die Türkei und Griechenland mit insgesamt 25 Fregatten und Zerstörern, 400 Kampfflugzeugen, 120 Angriffshubschraubern, 2.500 Kampfpanzern, 1.500 gepanzerten Fahrzeugen und fast 1.000 Einheiten schwerer Artillerie zu beliefern[3].

Mit 800.000 Mann - in militärischen Formationen - verfügt die Türkei über eine der zahlenmäßig größten Armeen der Welt. Mit Griechenland gibt es immer wieder Konflikte, bei denen es häufig zur gegenseitigen Drohung kommt, erneut Waffengewalt einzusetzen. Im Inneren der Türkei tobt ein Bürgerkrieg, der an Intensität in den letzten Jahren zugenommen hat und sich längst auf den Irak ausgedehnt hat. All dies scheint aber die Bereitschaft anderer NATO- Staaten, aber auch Rußlands nicht zu beeinträchtigen, massiv den rasanten Aufrüstungsprozeß zu unterstützen. Meldungen der Lieferländer beim neu eingerichteten Transferregister für Großwaffen der Vereinten Nationen ergeben für den Zeitraum 1992 bis 1994 folgende Lieferungen an die Türkei (in Klammern die jeweilige deutsche Exportmeldung):

1.605 (86) Kampfpanzer, 1.121 (292) gepanzerte Fahrzeuge, 284 (131) Artilleriesysteme, 29 (-) Angriffshubschrauber, 124 (45) Kampfflugzeuge, 2 (1) Kriegsschiffe und 1.852 (-) Raketen und Startgeräte.

Es fällt schwer, diese Aufrüstungsorgie einem vernünftigen Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zuzuordnen. Nicht genug: Zur kurzfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen in der deutschen Werftindustrie hat die Bundesregierung im September 150 Millionen Mark[4] locker gemacht, um den Bau zweier weiterer Fregatten für die Türkei sicherzustellen.

Weder im UN-Register noch im Jahrbuch des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI ist ein weiterer deutscher Beitrag zur Aufrüstung der Türkei verzeichnet. Dabei müssen diese deutschen Lieferungen geradezu als Zündholz für zukünftige militärische Konflikte bezeichnet werden.

Aus den Beständen der NVA hat die Bundesregierung unter anderem etwa 300 000 Kalashnikov-Gewehre, einschließlich großer Munitionsbestände, an die Türkei geliefert. Zur Veranschaulichung: In eine Reihe aneinandergelegt würden diese Gewehre von Hamburg bis etwa Göttingen reichen. Die Bundesregierung mußte wissen, daß die türkischen Streitkräfte mit G-3-Gewehren bestens ausgerüstet sind, die in Lizenz des deutschen Herstellers im Lande gefertigt werden. Außerdem verfügt die Türkei über entsprechende Munitionsfertigungskapazitäten, die mit deutscher Unterstützung errichtet und durch deutsche Munitionskäufe finanziert wurden. Nicht zuletzt die mit der Fertigung im eigenen Lande verbundenen wirtschaftlichen Interessen stehen der Nutzung der Kalashnikovs durch die türkische Armee entgegen. Wichtiger noch: Keine Armee wird ohne Not einen zweiten Gewehrtyp mit unterschiedlicher Munition einführen, denn damit entstehen erhebliche Probleme für die militärische Logistik und Ausbildung. Auch die Bundeswehr wollte dies nicht. Sie hat deshalb auf die Annahme dieses NVA-Erbes verzichtet.

Betrachtet man den Vorgang aus NATO-Sicht, so unterläuft diese Lieferung die allseitig angestrebte Standardisierung der militärischen Ausrüstung. Um den Export als Unterstützung des NATO-Mitgliedes im Rahmen gemeinsamer Verteidigung zu rechtfertigen, mußte die Bundesregierung aber unterstellen, daß die türkischen Streitkräfte die Kalashnikov-Gewehre nutzen würden. Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß die türkische Seite andere Verwendungszwecke im Auge hatte, als sie dieses Geschenk aus Deutschland annahm.

Es ist absehbar, daß diese Waffen der Türkei als Spielmasse bei der Umsetzung ihrer Ambitionen als regionale Führungsmacht gegenüber den instabilen neuen Staaten in den nicht-russischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion dienen werden. Alternativ kann man sich auch vorstellen, daß die türkischen Milizen (System der bewaffneten Dorfwächter) im Bürgerkrieg gegen die Kurden mit den NVA- Gewehren bewaffnet werden sollen. Dort könnten die Gewehre zum Einsatz kommen, ohne die logistische Effizienz der Streitkräfte zu beeinträchtigen. Schließlich ist auch vorstellbar, daß viele NVA Gewehre bereits auf bosnischer Seite - unter Bruch des UN-Embargos - im Einsatz sind. Allerdings wird sich ein solcher Einsatz nicht exakt belegen lassen, denn auch andere Staaten haben (durch die Ex-DDR) erhebliche Mengen des gleichen Gewehres erhalten. Daher wird man aus dem Fund derartiger Gewehre aus DDR-Fertigung nicht mit Sicherheit den Schluß ziehen können, daß die deutsche militärische Türkeihilfe bereits in Sarajewo angekommen ist.

Aus welchen Gründen auch immer; man kann es drehen und wenden wie man will: Ob aus sturer Nibelungentreue oder als Investition in das vermeintliche Bollwerk gegen Fundamentalismus und post-sowjetisches Chaos, die Bundesregierung hat mit diesem Transfer in flagranter Weise gegen ihre proklamierten Richtlinien der Rüstungsexportpolitik verstoßen. Die Entsorgung der NVA-Waffen in der Türkei war ein potentiell friedensstörender Akt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Waffen an verschiedenen, zumeist schwer identifizierbaren Stellen auftauchen und zu kriegerischen Gewaltakten führen werden.

Anbietervielfalt

Zurück zur Situation allgemein: Streitkräfte in fast allen Staaten sind mit stark eingeschränkten Budgets konfrontiert, nicht zuletzt bedingt durch die globale wirtschaftliche Rezession. Der tiefgreifende politische Umbruch veranlaßt das Militär, nach neuen Rollen zu suchen, die eine Fortsetzung der institutionellen Legitimität sichern sollen. In vielen Regionen betreibt das Militär seit Jahren eigene wirtschaftliche Tätigkeiten, deren Transparenz häufig gering ist. Diese Verselbständigung kann man als eine Parallele zur allgemeinen Tendenz staatlicher Deregulierung betrachten. Sie ist politisch gefährlich, weil sie das staatliche Gewaltmonopol in seinem Kern schwächt. Angesichts stark reduzierter Militärhaushalte versucht man allerorten, die Waffenbestände zu vermindern, um damit Einkünfte zu erwirtschaften. In der Regel findet dies mit ausdrücklicher Unterstützung der Regierung statt.

In einigen Ländern ist die indirekte ökonomische Verselbständigung des Militärs aber soweit fortgeschritten, daß solche Transaktionen an der Regierung vorbei getätigt werden. Diese Neigung ist um so stärker ausgeprägt, je krisenhafter die wirtschaftliche Situation ist. Dabei geht häufig die zentrale Kontrolle über das Eigentum der Streitkräfte verloren, lokale Garnisonen, aber auch Einzelpersonen bessern ihr Einkommen auf, indem sie Waffen und militärisches Gerät in den schwarzen Markt verschieben. Zum Beispiel war der Auflösungs- und Teilungsprozeß der Roten Armee in nationale Streitkräfte von vielen Erscheinungen dieser Art begleitet. Viel Material der Westgruppe landete bei ihrem Rückzug aus Deutschland auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz.

Der Vollständigkeit halber ist darauf zu verweisen, daß es illegale Waffentransfers gibt, die von den beteiligten Akteuren als normale Transferbeziehungen begriffen werden. Hierzu gehörten in der Vergangenheit Lieferungen Israels an international geächtete Staaten (wie Südafrika) und heute die Lieferungen des Iran an die bosnischen Streitkräfte.

Eine weitere Quelle für Angebote sind politisch beendete Bürgerkriege. Aufgrund des großen Kapitalbedarfes beim Wiederaufbau versuchen die Kriegsparteien, ihre Waffen zu veräußern. Dies scheint relativ reibungslos möglich zu sein; wahrscheinlich, weil die Waffen auf den Kanälen wieder zurückfließen, auf denen sie ursprünglich ins Land gekommen waren. So kommt es, daß Kriegsgerät von einem Kriegsgeschehen zum nächsten wandert. Gerät aus dem libanesischen Bürgerkrieg ist in Kroatien dokumentiert.

Schließlich spielt der weitgehend freie Verkauf von Kleinwaffen in weiten Teilen der USA und der Schweiz (als Ursprung von Handfeuerwaffen), die in bewaffneten Auseinandersetzungen ein- gesetzt werden, zumindest in bestimmten Regionen eine bedeutende Rolle. In Kolumbien, einem der gewaltträchtigsten Länder, stammen achtzig Prozent der konfiszierten Handfeuerwaffen ursprünglich aus dem freien Einzelhandlesverkauf in den USA. Hierher gehört auch, daß die organisierten Morde in Rußland sehr häufig mit Schußwaffen dieser Herkunft durchgeführt werden, wobei die Mordwaffe zur Sicherheit der Täter in der Regel am Tatort hinterlassen wird. Hinter dieser »teureren« Strategie (russische Waffen wären um ein Vielfaches billiger) steht der Sachverhalt, daß kriminaltechnisch der Weg dieser frei verkauften amerikanischen Schußwaffen schlechter zu ermitteln ist als nahezu aller anderen Waffen.

Zusammenfassend kann man feststellen, daß das Angebot an Kleinwaffen in Richtung graue und schwarze Märkte heute überwiegend aus den Beständen von Streitkräften kommt. Wie die deutsche Lieferung an die Türkei andeutet, werden die Surplusbestände offensichtlich zunächst im zwischenstaatlichen Transfer zum Beispiel als Waffenhilfe näher an potentielle Konflikt- regionen herangeführt, um dann auf unterschiedliche Weise in aktive Konfliktzonen einzusickern.

Die Netze des Waffentransfers

Die Dynamik des Kalten Krieges hatte das Konfliktgeschehen weltweit ideologisch überwölbt. Selbst in entlegenen Regionen konnten Konfliktparteien sich mit der Drohung, die jeweilige ideologische Wagenburg zu verlassen, gewünschte militärische Ausrüstung sichern. Allerdings war die angesprochene geostrategische Führungsmacht häufig bemüht, die Unterstützung zu verschleiern. Daraus entwickelten sich recht komplizierte Netzwerke und Handelsrouten, die von den Initiatoren nicht immer vollständig kontrolliert werden konnten. So waren an der Inszenierung von »Irangate« unter anderem die USA, Israel, der Iran, und schließlich die Contras in Nicaragua als Empfänger direkt involviert. Die verdeckte amerikanische Unterstützung Savimbis in Angola hat den afrikanischen Kontinent mit einem Netzwerk von Akteuren überzogen, die eine unauffällige Logistik der von den USA finanzierten Waffenlieferungen an die UNITA sicherten. Ähnliches gilt für die Region um Afghanistan. Mit dem Wegfall ihres Existenzgrundes, dem Kalten Krieg, verschwinden diese Strukturen keineswegs, vielmehr passen sie sich dem Strukturwandel des internationalen Systems an und operieren nunmehr auf dem eigendynamischen Feld effektiver Nachfrage nach Kleinwaffen. Ergänzt wird dieses Netzwerk der »Old Boys« durch das leistungsfähige internationale Drogennetz, das selbst Nachfrage nach Kleinwaffen generiert. Das Ende der Expansion dieses Netzes ist nicht abzusehen, weil die Gesetze in den Industriestaaten den integrierten Wirtschaftszweig Drogenanbau, -verarbeitung und —vertrieb kriminalisiert und damit zugleich profitabel gemacht haben. Zusätzlich verfügt die Drogenszene über globale Kommunikationsstrukturen sowie Kanäle zur Abwicklung sensibler Finanztransaktionen, eine wichtige komplementäre Voraussetzung für illegale Geschäfte mit Kleinwaffen.

Akteure, die genügend kriminelle Energie aufbringen, um illegale Transaktionen durchzuführen, finden sich angesichts der zunehmenden sozialen Polarisierung und Freisetzung auch gut ausgebildeter Menschen in der regulären Ökonomie in den meisten Ländern auf Anhieb. Der politische und wirtschaftliche Zerfall zentralstaatlicher Organisation in vielen Ländern erleichtert die für illegale Transfers häufig notwendige Korruption staatlicher Organe. Diese Korruption hat schließlich ganze Staatsapparate zu aktiven Akteuren im illegalen Waffen- und Drogenhandel gemacht. Wenn ein substaatlicher Akteur, wie Savimbi's UNITA in Angola, über erhebliche Deviseneinkünfte, in diesem Falle aus Diamantenverkäufen, verfügt, sind internationale Embargos zum Scheitern verurteilt. Bestenfalls der Preis der Korruption steigt, denn sie ist geradezu die Existenzgrundlage der Staatsapparate in den benachbarten Staaten.

Wenn man sich die wirtschaftliche Dimension des parasitären Parallelmodells zum oft zitierten globalen Markt veranschaulicht, wird die ordnungspolitische Sprengkraft des Drogenmarktes bzw. der gesamten illegalen Ökonomie deutlich. Der Umsatz des Drogensektors wird derzeit auf 400 Mrd. US $ geschätzt. Dies macht etwa 10 % des Welthandels aus, was etwa der Größenordnung der Welttextilindustrie entspricht. Dieses globale ökonomische Netz operiert in der Illegalität und korrumpiert mit seinem finanziellen Gewicht jede Form von Staatlichkeit in den Produktionsländern. Die Regulierung dieses Sektors basiert auf kriminellen Akten und personaler Gewalt. Der Sektor ist aber auch eine Überlebensressource für viele aus dem großen Heer der arbeitslos Ausgeschlossenen und bezieht aus diesem Sachverhalt seine Dynamik und sein flexibles Widerstandspotential gegen groß angelegte internationale Drogenkontrollpolitik. Das weltweite Netz der Drogenökonomie bildet jedoch nur einen Zweig der organisierten Kriminalität. Es wird geschätzt, daß die organisierte Kriminalität im vergangenen Jahr insgesamt 1 000 Milliarden US $ erwirtschaftet hat. Die Hälfte davon entfällt auf die Vereinigten Staaten[5]. Dieser Sektor der globalen Ökonomie entspricht etwa einem Sechstel des Welthandels übersteigt das Bruttosozialprodukt Schwarzafrikas um das Sechsfache. Er besitzt ein zersetzendes Korruptionspotential, dem staatliche Akteure in armen Ländern nur selten Widerstand entgegensetzen, zu asymmetrisch ist die Verhandlungsmacht verteilt. Korruption wird so zu einem endemischen Selbstläufer, der die Auflösung von Staatlichkeit, vor allem in weiten Teilen Afrikas beschleunigt[6].

Wahrscheinlich haben die während des Kalten Krieges üblichen hoheitlichen Fälschungen zur Täuschung der Öffentlichkeit zusätzlich den Boden für Korruption bei den Kontrollorganen vorbereitet, auch in wirtschaftlich saturierten Ländern. Wenn in Deutschland Ministerialbeamte auf politische Weisung gegen bestehende Gesetze aus Panzern und anderem Kriegsgerät landwirtschaftliche Maschinen machen, um sie ohne ausdrückliche Exportgenehmigung nach Israel zu verschiffen, dann drängt sich die Vermutung auf, daß auch in diesen Gefilden durchaus ein Handlungsraum für Korruption existiert.

Da auf dem Kleinwaffenmarkt, zumindest gegenwärtig, weltweit zahllose Anbieter zur Verfügung stehen, dürfte sich für nahezu jede Nachfrage ein Transferweg ergeben, vorausgesetzt, der Nachfrager ist zahlungsfähig oder wird von dritter, interessierter Seite finanziell unterstützt. Dem internationalen Drogenhandel gleich, sind die Erfolgsaussichten, durch konzertierte internationale Aktionen den Transfer von Kleinwaffen unter Kontrolle zu bringen, gering. Es muß hier wie dort bei den Ursachen für die Nachfrage angesetzt werden.

Die Nachfrageseite

Die internationale Rüstungsnachfrage hat sich seit dem von der Reagan- Regierung entfachten Aufrüstungsrausch Mitte der 80er Jahre stark vermindert. Mehrere Faktoren wirken hier kumulativ. Als mittelbare Folge der globalen Rezession herrscht weit verbreitet eine schwere Krise der Staatsfinanzen, die zu Einschnitten in die Miltärbudgets zwingt. Zudem hat das Militär mit dem Ende des Kalten Krieges einen Rollenverlust erlitten, der nur in einigen Ländern (wie der Türkei) durch eine neue expansiv orientierte Politik kompensiert wurde. Schließlich sind im Gegensatz zu den 80er Jahren Waffenembargos gegen wichtige Importländer, z.B. den Irak weitgehend eingehalten worden.

Für den Kleinwaffenbereich gibt es wenig harte Fakten über entsprechende Veränderungen. Man kann aber davon ausgehen, daß die meisten Armeen dieser Welt einen Vorrat an Kleinwaffen und dazugehöriger Munition angehäuft haben, der den möglichen Bedarf auf viele Jahre deckt. Auf Ersatzbeschaffungen wird daher häufig verzichtet. Die Schließung von Produktionsstätten in vielen Ländern ist die Folge. Dies heißt aber nicht, daß es in den 90er Jahren keine Nachfrage nach Kleinwaffen mehr gibt.

Der dramatische Umbruch in Osteuropa und die forcierte Deregulierung in weiten Teilen der Welt gehen einher mit einer Polarisierung der Einkommensprofile in immer mehr Ländern. Dies ist der Humus, auf dem sich die vielfältigen Formen gesellschaftlich organisierter Gewalt entwickeln und transformieren. Darüber hinaus breiten sich gewalttätige Wirtschaftskriminalität, besonders das Schutzgeldwesen und der illegale Drogensektor nunmehr weltweit aus. Vor allem in diesen beiden Feldern hat sich eine zahlungsfähige Nachfrage nach Kleinwaffen herausgebildet, die sich nach dem Aktion- Reaktion-Schema sehr dynamisch entwickelt. Ein Teil der riesigen Apparate für innere Sicherheit in den Ländern Osteuropas hat sich mit (Kleinwaffen) Ausrüstung und Know how nahezu bruchlos selbst erfolgreich »privatisiert« und dominiert sowohl den parasitären kriminellen Überbau der im Umbruch befindlichen Gesellschaften als auch die umfangreichen privaten Sicherheitsdienstleistungen, die von wirtschaftlich erfolgreichen Akteueren nachgefragt werden. Gelingt die soziale Reintegration von Angehörigen aufgelöster Streitkräfte nach internen Kriegen nicht, so haben die betreffenden Gesellschaften gewaltförmiges Eindringen in marktregulierte Transaktionen bzw. eine Kriminalisierung ihrer Volkswirtschaft zu gewärtigen. In einigen Fällen organisiert sich diese Kriminalität und operiert als vorwiegend plündernde selbsternannte Kriegspartei unter einem »Warlord« und macht solche "Kriege niedriger Intensität" zu einem zirkulären Prozeß. In diesen Fällen entsteht unmittelbar kaufkräftige Nachfrage durch Raub, die auf den illegalen Waffenmärkten Warenströme in die betreffende Region auslöst. Diese allgemeine Dynamik wird noch dadurch verstärkt, daß das Überangebot an Waffen und freigesetztem Militär- bzw. Sicherheitspersonal seit den 90er Jahren zu einem derart dramatischen Preisverfall geführt hat, daß die Eintrittschwelle in bewaffnete Kriminalität sehr niedrig geworden ist und wegen Fehlens ökonomischer Alternativen immer häufiger in sehr armen Ländern - und von marginalisierten Schichten auch anderswo- auch überschritten wird.

In einem kontinuierlichen Prozeß, der weit in die 80er Jahre zurückreicht und durch die Auflösung der Sowjetunion einen großen Schub erhalten hat, verändert sich das breite Spektrum bewaffneter Konfliktregulierung. Mit dem endgültigen Wegfall des bi-polaren Systems eines konkurrierenden »sponsoring« lokaler Konflikte hat sich zwangsläufig die ökonomische Basis der lokalen militärischen Konflikte und Bürgerkriege verwandelt. Die jeweilige nicht-staatliche Konfliktpartei muß in erster Linie die Finanzierung des benötigten militärischen Gerätes sicherstellen. Dieser Sachverhalt beschränkt in vielen Fällen das militärische Niveau der Auseinandersetzungen, etwa im Vergleich zu den Kriegen während der achtziger Jahre in Angola oder Afghanistan. Gleichzeitig aber erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß die Konfliktparteien eine zunächst taktische Allianz auf Gegenseitigkeit mit illegalen ökonomischen Interessen eingehen oder selbst z.B. die Rolle eines Schutzgelderpressers übernehmen. Am offenkundigsten ist die Bereitstellung von Operationsräumen für den internationalen Drogenhandel als Gegenleistung für die Lieferung von Waffen.

Aber es gibt viele weitere, häufig subtile Verfahren, die den Charakter der Auseinandersetzung insgesamt verändern, aber den Finanzbedarf der jeweiligen Kriegspartei absichern. Die Reproduktionsmechanismen, die eine Fortdauer kriegerischen Geschehens erst ermöglichen, reichen von Raub und Plünderung über Schutzgeld, Erpressung, illegalem Export von Rohstoffen (trop. Hölzer, Öl, Gold, Diamanten, Elfenbein usw.), Drogenanbau, -handel, Menschenhandel, Waffenhandel, Falschgeldherstellung, Zwangsabgaben u.a. von wohlhabenden Emigranten, Aneignung humanitärer Hilfsgüter u.a.m. bis hin zur häufig sehr wichtigen Instrumentalisierung religiöser oder ethnischer Diaspora.

Zumeist eine Kombination mehrerer derartiger Quellen verhindert, daß kriegerische Konflikte in eine wirtschaftliche Erschöpfung einer Seite münden und zu einem raschen Ende kommen. Vielmehr zeigen die Fallstudien in einem herausragenden Sammelband zur Ökonomie der Bürgerkriege[7], daß die ökonomischen Treibriemen des Kriegsgeschehens ihren Antrieb jeweils aus weitgehend illegalen Zirkulationssphären erhalten, in denen es viel zu verdienen gibt. Die Transaktionen sind nicht Marktregeln, sondern brutaler Androhung und Anwendung von Gewalt unterworfen. Gleichzeitig zeigt der genaue Blick auf die Kriegesökonomien, daß zumeist auf allen Seiten nicht wenige an der Kriegswirtschaft verdienen, so gut verdienen, daß zumindest ihnen ein Ende der Kriegshandlungen als Bedrohung erscheinen muß. In dieser Gemengelage verwischen sich die Grenzen zwischen der nichtstaatlichen Seite in Bürgerkriegen und organisierter nationaler und internationaler Kriminalität. Dies scheint auch dort Gültigkeit zu haben, wo ein »neuer« ideologischer Mantel, wie Religion oder ethnische Zugehörigkeit, den militanten Konflikt äußerlich dominiert. Es ist schwer zu klären, ob und in welchem Umfang derartige ideologische Begründungen für Kriegshandlungen tatsächlich jeweils externe Unterstützung generieren. Wahrscheinlich ist aber, daß diese Unterstützung auf den gleichen Märkten wirksam wird und nicht direkt aus den Arsenalen eines interessierten Staates z.B. Saudi Arabien kommt.

Aus all dem ergibt sich, daß die Nachfrage nach Kleinwaffen breit diversifiziert ist; sie induziert ein unkontrollierbares Liefernetz, das sich aus international operierenden Hierarchien illegaler Akteure zusammensetzt. Eine Vielzahl häufig vergleichsweise kleiner Transaktionen kennzeichnet die Struktur der Nachfrage. Daher dürfte gegenwärtig das globale Netzwerk des Kleinwaffenmarktes, dem Internet gleich, durch zentrale Eingriffe weder kontrollierbar noch verletzbar zu sein. Ökonomisch betrachtet, scheint heute der größte Teil der Nachfrage das Ergebnis krimineller Energie oder eine Spekulation auf den Ertrag militärischer Gewalt zu sein. Die gegenwärtigen Kriege und gewaltsamen Konflikte Die Sozialwissenschaften haben das Forschungsfeld gewaltsame Konflikte und Kriegsursachen sehr vernachlässigt. Zu sehr war alle Energie auf die West-Ost-Auseinandersetzung konzentriert, Begriffe wie Gleichgewicht, Abschreckung, Rüstungskontrolle standen im Vordergrund. Der Titel des SIPRI-Jahrbuches[8], der bekanntesten Jahresschrift in diesem Bereich, verdeutlicht dies. »Rüstung, Abrüstung und internationale Sicherheit« lautet er. Das aktuelle Kriegsgeschehen und andere Formen gesellschaftlich organisierter Gewalt werden von diesem begrifflichen Rahmen nur tangiert, nicht aber im Kern erfaßt. Nähert man sich den möglichen Ursachen für Kriege, so wird zunächst deutlich, daß vor allem die Dritte Welt den Ort des Konfliktaustrages stellt. Die komplizierten Linien der Verursachung hingegen reichen tief in die globale Wirtschaftswelt mit ihren symbiotischen Zusammhängen zwischen legaler und illegaler Ökonomie hinein. Noch am sichtbarsten ist die globale Verknüpfung der Kriege dort, wo die Drogenökonomie, deren Ausgangspunkt in den reichen Industrieländern liegt, Teil des Konfliktgeschehens ist, zum Beispiel Kolumbien, Afghanistian, Peru. Auffällig ist auch, daß die Kriegsintensität gemessen an den Zahlen der Opfer nicht mit dem Stand der Bewaffnung der jeweiligen Kriegsparteien korreliert. Abweichend von den sozialwissenschaftlichen Bemühungen, Kriege anhand eindeutiger Kriterien von anderen Formen gesellschaftlicher Gewalt abzugrenzen, soll hier die Hypothese zur Diskussion gestellt werden, daß sich gesellschaftliche Gewalt unabhängig von abgegrenzten Kriegen ausbreitet und eine gesellschaftliche Dauereinrichtung wird, die sich dem staatlichen Gewaltmonopol entzieht. Diese Gewaltformen können sich jederzeit zu einem Krieg konzentrieren. Doch auch ohne einen derartigen Umschlag ist die Entwicklung beeinträchtigt und kommt häufig zum Erliegen. Die global durchgesetzte neo-liberale Restrukturierung erzwingt »schlanke« Staatsapparate, was zumeist auch die Streitkräfte und andere Ordnungsorgane einschließt. Darüber hinaus verlieren die Nationalstaaten tendenziell die Kompetenz, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu regulieren. Hiermit ist ein weiterer Legitimationsverlust des Staates verbunden. Eine vom jeweiligen Weltmarktbezug bestimmte gesellschaftliche Segmentierung in klientelistische Gruppierungen, die sich den Staat aneignen, ist häufig die Folge.

Eine solche Entwicklung führt rasch zu einem fortschreitenden Verlust des staatlichen Gewaltmonopols. An seine Stelle tritt eine konkurrierende und eskalierende Expansion privat organisierten »Schutzes« (»Wach«- und »Sicherheitsdienste«). Im nächsten Schritt regulieren Gewaltverhältnisse (Schutzgelderpressung, erzwungene Beteiligungen etc.) die wirtschaftlichen Prozesse und die Wohlfahrtsverteilung. Hierbei handelt es sich um einen sich fortwährend selbst verstärkenden Prozeß, der von einfacher Raubkriminalität bis zu schwerster Erpressung reicht. Derartige Aktions-Reaktionsmuster einer privaten »Militarisierung« der gesellschaftlichen Verteilungskonflikte ist längst nicht mehr auf die Dritte Welt beschränkt. Vielmehr ist dieser Zerfallsprozeß staatlicher Autorität in der vormalig Zweiten Welt besonders ausgeprägt, während in der ersten Welt die Zahl der Opfer in »Bandenkriegen« Anlaß geben sollte, die zunehmenden Ähnlichkeiten zwischen dem gegenwärtigen Kriegsgeschehen und der organisierten Gewalt- kriminalität eingehend zu untersuchen[9].

Die allgemeine Entstaatlichung kann aber auch eine wirtschaftliche Verselbständigung der Streitkräfte befördern. Sie reicht von der Kontrolle wichtiger wirtschaftlicher Sektoren, über den Zugriff auf Steuern außerhalb des Staatshaushaltes, bis hin zu einer direkten Konkurrenz zwischen den Streitkräften und privaten Syndikaten um Schutzgelder (zum Beispiel im Drogenhandel). Die Streitkräfte verselbständigen und entwickeln sich zu einer klientelistischen Gruppierung im gesellschaftlichen Verteilungskampf. Bei zunehmendem Verlust staatlicher Kompetenz und der Wahrnehmung, ohne Entwicklungsperspektiven zu sein, bildet sich der Nährboden für Ideologien - zumeist mit religiösem oder ethnischem Bezug -, die auf eine andere gesellschaftliche Ordnung oder eine territoriale Separierung und Eigenständigkeit orientiert sind. In stark segmentierten, bereits von Gewaltverhältnissen geprägten Gesell- schaften schlagen derartige politische Zielsetzungen sehr häufig in einen Bürgerkrieg um. Als Folge solcher Kriege verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage nicht selten so dramatisch, daß diese Kriege zur Ursache ihrer Fortsetzung werden. Die gesellschaftliche Reproduktion kommt weitgehend zum Erliegen, die Waffe selbst wird zum Reproduktionsmittel. Derartige Konflikte münden in Gewaltverhältnissen ohne erkennbares politisches Ziel.

Anders formuliert: Die Trennungslinien zwischen krimineller Gewalt und innergesellschaftlichen Kriegen verschwimmen sowohl zeitlich als auch in Bezug auf die eingesetzten Gewaltmittel. Einige Kriege haben keine Frontlinie mehr; Kleinwaffen und die Nutzung moderner ziviler Infrastruktur, z.B. Satellitentelefone[10] sind das Arsenal, aus dem sich die Kriegsparteien bedienen. Einige Kriege scheinen nur durch völlige Erschöpfung der Überlebensressourcen zu einem Ende zu bringen zu sein. Hier werden Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg sichtbar.

Die notwendige Tugend politischer Geduld

In den heute aus neo-liberaler Perspektive viel gescholtenen Jahren des Staatsinterventionismus hatte sich zumindest die Ausbildungssituation für Jugendliche in den weitaus meisten Ländern deutlich verbessert. Der Analphabetismus ging überall deutlich zurck. Dies hat sich inzwischen geändert, die schulische Versorgung hat sich vielerorts mangels öffentlicher Finanzen erheblich verschlechtert, ganz besonders gilt dies für die wachsenden wirtschaftlich marginalisierten Bevölkerungssegmente in fast allen Ländern. Dieser wachsenden Zahl Jugendlicher fehlt es an notwendigen Qualifikationen, um auf dem formalen Arbeitsmarkt erfolgreich zu bestehen. Sie sind von vorneherein in die informelle, stark kriminell dominierte Schattenwirtschaft abgedrängt. Das Umfeld, in dem sie aufwachsen, ist davon gekennzeichnet, daß sie bereits in frühem Schulalter völlig auf sich selbst angewiesen sind. Die Familie als intergenerationelle Sozialisationsinstanz existiert, wenn überhaupt, nur noch rudimentär. Die gleichzeitig voranschreitende Privatisierung der sozialen Infrastruktur und die Vernachlässigung des verbliebenen Restes perpetuieren die soziale Ungleichheit. Das sozialstaatliche Gebot, für Chancengleichheit z.B. in der Ausbildung zu sorgen, ist faktisch längst aus dem Katalog der Staatsziele selbst wohlhabender Staaten gestrichen. Es wird oft übersehen, daß nicht nur in Extremsituationen, wie etwa bei Flüchtlingen, das Sozialkapital inzwischen nicht mehr oder nur völlig unzureichend reproduziert wird. Insoweit Staaten weitgehend zerfallen und nicht durch dynamische Alternativstrukturen, wie dies offensichtlich in Teilen von Somalia der Fall ist, ersetzt worden sind, ist dort die große, in ökonomischer Apartheid lebende Bevölkerungsmehrheit von intergenerationellem Abstieg betroffen. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Regression treten mit Verzögerung zutage, sie werden jedoch die Wirkung einer Zeitbombe haben. Leider fehlt es an einem geeigneten Instrumentarium, um die mittelfristigen Folgen der gegenwärtigen Politik abzuschätzen. Dabei wäre es politisch bedeutsam, wenigstens die Größenordnung der Hypothek benennen, die die heutige Politik der folgenden Generation aufbürdet.

Die politisch erzwungene Austrocknung des Staates bei gleichzeitig verschärfter sozialer Polarisierung provoziert Eigentumskriminalität und illegale wirtschaftliche Zirkulationsphären, die über den Drogenhandel hinausreichen. Sie sind regelhaft mit Gewaltkriminalität verbunden. Sie sind zugleich auch die Sphären, in denen die marginalisierten Kinder ihre Leben realisieren müssen und in dessen Normensystem sie nach Selbstwertgefühl suchen. Die Bande bzw. das Racket ersetzen die Familie als Sozialisationsinstanz. Als Reaktion auf die Verhältnisse breitet sich Kriminalitätsangst aus und setzt sich unter dem Etikett Schutz vor Kriminalität in Maßnahmen aktiver Ausgrenzung um. Da diese erhöhten funktionalen Anforderungen an den Staat, Sicherheit zu produzieren und die physische Unversehrtheit der Privilegierten zu garantieren, auf einen fiskalisch ausgedörrten Staat treffen, kommt es zu umfassender Privatisierung aktiver und passiver Sicherheitsvorsorge. Sicherheit wird ein käufliches Gut, dieses kollektive Gut wird so zunehmend ein privates Privileg. Die Gleichheit im Schutz der Bürger vor dem Verbrechen geht verloren. Wer mehr verdient, kann sich besser schützen. Private Sicherheit drängt die Kriminalität in die Lebensphäre der Benachteiligten, die es sich nicht leisten können, z.B. in einer "gated community" zu leben, sondern zum Leben in ökonomischer Apartheid verurteilt sind.

Diese Sequenz von Hypothesen beansprucht nicht, bereits die Realität angemessen zu erfassen. Sie soll vielmehr zeigen, daß Erfolgschancen in der Entwicklungspolitik in starkem Maße von einer gesellschaftsanalytischen Anstrengung abhängen, die Ursachen von gewaltsamen Konflikten und Kriegen aufzuklären und dadurch realitätstüchtige Handlungschancen zu eröffnen. Der Wegfall des Ost- West-Schemas hat zwar den Blick für dieses Defizit freigemacht, aber unser Denken ist noch zu sehr dem alten Paradigma verhaftet. Nun mag man versucht sein, ob all dieser negativen Perspektiven militärischen Interventionen mit humanitärer Zielsetzung das Wort zu reden. Doch hat uns die Geschichte gescheiterter "Befreiungskämpfe" belehrt: Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit lassen sich nicht herbeibomben. Die immer wieder gehegte Illusion von der Möglichkeit, Befreiungskriege zu führen, hat sich als billige Projektion der eigenen politischen Handlungsunfähigkeit, vielleicht auch des Mangels an engagierter Handlungsbereitschaft entlarvt. Denn die innere Logik militärischer Konflikte erzwingt im Prozeß der Eskalation die Übernahme der Kampf- und Organisationsformen der repressiven Macht (des militärischen Gegners). Die militärischen Anforderungen und Kriegsstrategien verselbständigen sich unausweichlich. Der demokratisch-alternative Anspruch muß, vermeintlich nur vorübergehend, dem militärischen Ziel geopfert werden. Die Politik verliert in der Konfliktdynamik die Fähigkeit, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren. Die zu befreienden Subjekte werden regelmäßig zu Opfern der Auseinandersetzung. Die Utopie der Befreiung wird durch militärische Handlungszwänge pervertiert.

Der Befund ist eindeutig: Politisch begründete Gegenwalt und Todesstrafe sind sich darin ähnlich, daß sie die intendierten Wirkungen total verfehlen. Was bleibt, ist umso hartnäckigere Bescheidenheit in der politischen Arbeit für eine gerechtere und weniger kriegerische Welt sowie die selbstkritische Prüfung unserer eigenen Lebensstile auf Verstrickung in die Verursachung von gewaltförmigen Konflikten. Das mag manchen wenig erscheinen, aber der in den Arbeiten von Amartya Sen umfassend belegte Befund, daß demokratisch verfaßte Gesellschaften niemals eine wirkliche Hungerkatastrophe zugelassen haben, sollte entschlossenem politischem Handeln auf allen Ebenen das notwendige Selbstvertrauen geben.

Umgekehrt heißt dies, daß Elend und daraus entstehende Gewalt politisch verursacht sind. Kindersoldaten und jugendliche Gewaltverbrecher sind das Ergebnis politischen Versagens, an dem wir irgendwie auch teilhaben. Indem wir dies akzeptieren, bereiten wir die Veränderung vor, packen wir es an, nur Unbescheidenheit unseres Anspruches kann uns daran hindern. Denn es wäre vermessen zu erwarten, daß man sich einer umfassenden Prävention von Kriegen und Konflikten rasch nähern könnte.

Trotz allem ist es möglich, zupackende Initiativen zu entwickeln, die sich schlichtend in kriegerisches Konfliktgeschehen einzumischen versuchen. Ein Beispiel soll zum Abschluß dieser Betrachtung entwickelt werden.

Die auf Bürgerkriege nicht passende Utopie des Satzes »Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin« muß als Anforderung an die internationale Staatengemeinschaft umgeschrieben werden in »Stell Dir vor, es ist Krieg und jeder kann weglaufen«. Derzeit gilt die Verweigerung von Kriegshandlungen allgemein nicht als Asylgrund. Das muß sich ändern.

Daher ist eine bislang nicht forcierte Möglichkeit, Initiativen gründen, die das Weglaufen fördern und die Weggelaufenen mit einer beruflichen Ausbildung auf eine konstruktive Rolle in der Nachkriegsperiode ihres Landes vorbereiten. Alle Möglichkeiten müssen durchdacht werden, wie das Weglaufen konkret organisiert werden kann, wie es besonders attraktiv für männliche Jugendliche und junge Männer gemacht werden kann. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß man das »Kriegspersonal« mit attraktiven Angeboten in großem Maßstab abwerben kann. Aber schon die Abwerbung in kleinem Maßstab verunsichert die Kriegführenden und bietet die Chance, daß die Kriegslogik ihre Legitimation in der Bevölkerung verliert. Die Fluchtmöglichkeiten müssen so gestaltet werden, daß die »Deserteure« ein Selbstwertgefühl entwickeln können. Denn man darf nicht übersehen, daß Soldatsein in einem kriegerischen Konflikt (wie in Bosnien) ein Selbstwertgefühl (machismo) vermittelt, das die be- troffenen jungen Männer in der perspektivlosen Zivilgesellschaft niemals hätten erwerben können. Im Gegensatz zur zivilen Gesellschaft bietet der Krieg jungen Männern einen sicheren Arbeitsplatz. Dieser ist im doppelten Sinne sicher, weil er sich, erstens im Zweifelsfalle mit Gewaltmitteln alimentiert, und zweitens, weil in den herrschenden Kriegsformen die Zivilbevölkerung in erster Linie die Opfer stellt, da es relativ selten zu wirklichen militärischen Stellungs- kriegen kommt. Um im Bilde zu bleiben: Je länger eine kriegerische Auseinandersetzung dauert, um so eindeutiger werden militärische Aktivitäten zum Selbst(erhaltungs)zweck und um so energischer werden die Soldaten, im vollen Sinne des Wortes, um ihren »Arbeitsplatz kämpfen«. Daher muß Desertion als Chance für Zukunft gestaltet werden, ein Flüchtlingslager genügt nicht.

Wichtige Literatur zum Thema

Apter, David, E. Hg., The Legitimization of Violence, London (Macmillan), 1997.

Balencie, Jean-Marc, La Grange, Arnaud de, Hg. Mondes rebelles. Acteurs, conflits et violences politiques, Paris (Éditions Michalon), 2 Vls., 1996.

BICC (Bonn International Center for Conversion), Small Arms and Light Weapons — The Perpetuation of Conflicts, in: BICC, Conversion Survey 1997, chapt..3, S.141-173, London (Oxford ) 1997.

Boutwell, Jeffrey, Klare, Michael, Reed, Laura W., Lethal Commerce. The Global Trade in Small Arms and Light Weapons, Cambridge (American Academy of Arts and Sciences), 1995.

Cohn, Irene, Goodwin-Gill, Guy S., Child Soldiers. The Role of Children in Armed Conflicts, Oxford (Oxford University Press), 1994.

Cranna, Michael, Hg., The True Cost of Conflict. Seven Recent Wars and Their Effects on Society, London (Earthscan), 1994.

Deutsches Rotes Kreuz, Weltkatastrophenbericht des Roten Kreuzes '97, Bonn (DRK), 1997.

Holsti, Kalevi J., The State, War, and the State of War, Cambridge (Cambridge University Press), 1996.

Jean, François, Rufin, Jean-Christophe, Hg., Économies des guerres civiles, Paris (Hachette Pluriel), 1996.

Kaplan, Robert D., The Ends of the Earth. A Journey at the Dawn of the 21st Century, New York (Random House), 1996.

Keane, John, Reflections on Violence, London, New York (Verso), 1996.

L'Afrique face aux conflits, sous la direction de Jean de Bois de Gaudusson et Michel Gaud, in: Afrique contemporaine, Trimestriel No.180 octobre-décembre 1996.

Laurance, Edward J., The New Field of Micro-Disarmament: Addressing the Proliferation and Buildup of Small Arms and Light Weapons, Bonn (BICC), 1996.

Observatoire géopolitique des drogues, Géopolitique des drogues 1995, Paris (La Découverte), 1995.

Rieff, David, Charity on the Rampage. The Business of Foreign Aid, in: Foreign Affairs, Jan./Feb., S.132-138, 1997.

Rotberg, Robert I., Hg., Vigilance and Vengeance. NGOs Preventing Ethnic Conflict in Divided Societies, Cambridge (World Peace Foundation), 1996

Sack, Fritz, Hg., Privatisierung staatlicher Kontrolle: Befunde, Konzepte, Tendenzen, Baden-Baden (Nomos), 1995.

Smith, Dan, The State of War and Peace Atlas, London (Penguin), 1997.

Stavenhagen, Rodolfo, Ethnic Conflicts and the Nation State, London (UNRISD Macmillan), 1996.

Sterling, Claire, Crime without Frontiers, The worldwide expansion of organised crime and the Pax Mafiosa, London (Little, Brown and Co.), 1994.

Tokatlian, Juan Gabriel, Ramírez, José Luis, La violencia de las armas en Colombia, Bogotá (Ed. Tercer Mundo) 1995.

Zartman, William I., Hg., Elusive Peace. Negotiating an End to Civil Wars, Washington D.C. (The Brookings Institution), 1995.

Fußnoten

[1] Siehe hierzu umfassend die leider nur in englischer Sprache verfügbare Studie: Ilene Cohn, Guy S.Goodwin-Gill, Child Soldiers The Role of Children in Armed Conflicts, Oxford (Clarendon) 1994.

[2] Eine Munitionsabfüllanlage der Firma Eurometall (A.Nobel) ist einen solchen Weg aus Niedersachsen, wo die Fertigung eingestellt wurde, über eine niederländische Toch-tergesellschaft in die Türkei gegangen.

[3] Fuelling Balkan Fires, Basic Report 1993,3, Washington D.C. und London, Sept. 1993.

[4] Das Arbeitsplatzargument steht dabei auf sehr schwachen Füßen, denn weit mehr als 50 Prozent der Wertschöpfung beim Bau dieser Fregatten entfällt auf importierte Komponenten, so daß die 150 Millionen Mark Zuschuß einer totalen Subvention der deutschen Wertschöpfung nahe kommen dürfte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man bei anderen Fördervorhaben einen wesentlich nachhaltigeren Beschäftigungseffekt erzielen würde.

[5] Vincent Boland, Earnings from organised crime reach $ 1,000 bn, in : Financial Times 14.2.1997, S.1.

[6] Den Prozeß des staatlichen Zerfalls und die Bildung von neuen gegeneinander abgegrenzten Einheiten, deren Identitätsstiftung (Herkunft, Religion, regionale Ökonomie, z.B. Ressourcenreichtum, die sich auch grenzüberschreitend definieren kann) sehr unterschiedlich ist, hat Achille Mbembe sehr präzise analysiert. Mbembe, Achille, Déflation de l'état et privatisation de la violence publique en Afrique sub-saharienne, in : Ministry of Foreign Affairs Hg., Poverty and Development, The Historical Dimension of Development, Change and Conflict in the South, The Hague 1994, S.39-46.

[7] Économie des guerres civiles , sous la direction de François Jean et Jean-Christophe Rufin, Collection Pluriel, Hachette, Paris 1996, (593 Seiten Taschenbuch).

[8] Der englische Originaltitel lautet: SIPRI Yearbook »Armaments, Disarmament and International Security« und erscheint jährlich bei Oxford University Press.

[9] Ein erster Versuch in diese Richtung liegt vor: Wolfgang Pohrt, Brothers in Crime, Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit, Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets und Gangs, Berlin1997.

[10] So hatte zum Beispiel die pakistanische Regierung die privaten Satellitentelefondienste über fast ein Jahr gesperrt, um die Unruhen in Karachi unter Kontrolle zu bringen, freilich ohne Erfolg.