Dr. Peter Lock
European Association for Research on Transformation e.V.

Orte und Akteure der Kriege

Trotz der Inszenierung des Golfkrieges deutet alles darauf hin, daß der konventionelle Krieg um die Beherrschung von Territorium ein Auslaufmodell ist. Der geostrategische Diskurs der militärischen Lobby schwankt zwischen institutionellem Beharrungsvermögen und Versuchen, eine neue Bedrohung politisch zu konsolidieren, die den Bedeutungsverlust des Militärischen nach dem Verschwinden der Sowjetunion aufhalten soll. Dabei wird die Trennung zwischen "innen (Polizei)" und "außen (Streitkräfte)" auf gefährliche Weise aufgehoben. Es wird unkalkulierbarer Feind entwickelt, der die Notwendigkeit "totaler" Verteidigung suggeriert. Die Orte und Akteure bewaffneter Konflikte hingegen entfalten sich aus dem globalen Trend gesellschaftlicher Segmentierung, von der vor allem die nachwachsende Generation betroffen ist.

Suche nach dem neuen Krieg

Für Industriegesellschaften hat die klassische militärische Verteidigung des Territoriums keine Bedeutung mehr, denn ihre absolute infrastrukturelle Verletzbarkeit hat zwischenstaatlichen Krieg als Fortsetzung der Politik obsolet werden lassen. Die Zunft der Politologen hat diesen Sachverhalt zum "demokratischen Frieden"* überhöht. Für verschiedene korporative Interessen(Teilstreitkräfe, Beschaffungsbürokratie, Forschungslabors etc., innerhalb des militärisch-bürokratisch-industriellen Komplexes, die während des Kalten Krieges leichtes Spiel hatten sich zu reproduzieren, wird die neue Situation zunehmend zu einem existentiellen Problem, obwohl die parlamentarischen Entscheidungsträger eine weitgehende, gleichwohl unsinnige Fortschreibung des militärischen Status quo ante zumindest tolerieren.

Allerdings diskutieren die strategischen Zirkel in den westlichen Industriestaaten seit den achtziger Jahren neue Rollen für die Streitkräfte. LIC (low intensity conflict)[1] und OOTW (operations other than war) gehören zu den bislang explorierten Rollen. Die extreme militärische Asymmetrie derartiger Szenarien bereitete große Schwierigkeiten bei der Umsetzung in Einsatzdoktrinen, die mit dem gegebenen militärischen Apparat verträglich sind, weshalb man sich weiterhin vorrangig auf die Option konzentrierte, weiter konventionelle Kriege zu führen. Trotz der Sauerstoffzufuhr durch den Golfkrieg ist aber die politische Erosion konventioneller Kriegsführung nicht aufzuhalten.

Eine vorrangige ideologische Funktion einer Militärdoktrin als Ausdruck des Herrschaftsdiskurses ist innergesellschaftliche Disziplinierung, daher muß sie ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit besitzen. Hierzu bedarf es eines Konsenses über eine vorliegende Bedrohung. Diesen herzustellen ist Aufgabe von Denkfabriken und den sie umgebenden Galaxien von Sicherheitsexperten, die im Solde des Militärkomplexes stehen. Neue Themen sind u.a. "cyber warfare", " no-intensity warfare" und "information warfare".[2] Da der Krieg aus der Sicht der militärischen Denkfabriken, um ein solcher zu sein, Staatlichkeit voraussetzt, hat man in diesen Denkmodellen der Bedrohung den "cyber state" als bedrohlichen Feind ausgemacht. Mit Hilfe dieses Konstruktes werden terroristische Gruppen und andere Formen abweichenden Verhaltens in der postmodernen Welt zu "feindlichen Para-Staaten" erhöht. Da Bedrohungen durch einen "cyber state" von keinem geographisch definierten Ort ausgehen, muß Verteidigung selbstredend "total" und vorausschauend d.h. proaktiv angelegt sein. Die Parallelen dieser ideologischen Figur mit dem McCarthyismus sind offensichtlich.

Die Trennung zwischen innen und außen, von Militär und Polizei, eine historische Errungenschaft des Nationalstaates, wird auf diesen Denkpfaden notwendig aufgehoben. Die Konstruktion der neuen Feindbilder weist ein gemeinsames Merkmal aus, Unkalkulierbarkeit des Verhaltens auf Seiten des gedachten Gegners, die nur durch proaktive Strategien eingehegt werden kann. Einerseits keimt hier eine neue totalitäre Doktrin auf, andererseits geschieht dies parallel zur Vorhaltung von militärischen Kapazitäten, die nur mit institutionellem Beharrungsvermögen und der politischen Sehnsucht nach Kontinuität (der einst so klaren ideologischen Verhältnisse) zu erklären ist. Die Attraktivität des Weltbildes bei Huntington[3] besteht darin, daß das Kollektiv der fundamentalistischen Monster beide Varianten bedient.

In diesem Kontext ist der Begriff "Russenmafia" zu einer politischen Alttagsvokabel geworden, obwohl es kaum eindeutige kriminologische Befunde gibt, die diesen Begriff füllen könnten. Er erlaubt aber die Übertragung eines eingeübten Musters auf eine neue Sicherheitsdoktrin, die sich anschickt die Trennung von "innen" und "außen" aufzuheben. In Deutschland sind ebenfalls bereits Ansätze zu dieser Entwicklung zu erkennen, die oft übersehen werden. Die Bedeutung des BGS unter dem Innenminister ist seit 1990 gewachsen, während die Bundeswehr ähnliche Polizeifunktionen (derzeit) im Ausland ausübt.[4] Sprachlich haben sich die Diskurse Kanthers und Rühes längst angeglichen. Die NATO-Osterweiterung hat auch eine bislang unausgesprochene militärische Kriseninterventionsdimension innerhalb des Bündnisses, die die Prioritäten bei infrastrukturellen Modernisierungsmaßnahmen in den Beitrittsländern bestimmt. In derartigen Szenarios ist eine Wehrpflichtarmee Anachronismus, der auch durch jährliche Hochwasser im Oderbruch nicht aufgehoben werden kann, denn diese Armeen ziehen nicht mehr ins Feld, sie "greifen (chirurgisch) ein" bzw. "intervenieren".

Diese Entwicklung vollzieht sich mit vielen Ungleichzeitigkeiten, die vom geradezu autistischen Beharrungsvermögen der Militärapparate herrühren. Am Beispiel der USA wird dies besonders deutlich. Zwei konventionelle Kriege des Typs Golfkrieg gleichzeitig führen und die absolute Überlegenheit im Bereich konventioneller und nuklearer Technologie unter allen Umständen fortschreiben, lautet nach dem Ausscheiden der Sowjetunion der Legitimationsrahmen für den amerikanischen Militärkomplex.[5] Da das gegenwärtige weltpolitische Szenario glaubwürdige Kontrahenten für diese Doktrin auf absehbare Zeit nicht aufbietet, ist die Ausschau nach neuen Bedrohungen derzeit die bestbezahlte sozialwissenschaftliche Betätigung. Zumal die heutigen ökonomischen Rahmenbedingungen das Aufwachsen eines "rogue state"[6] zu einem militärischen Faktor weitgehend ausschließen. Daher liegt Tarif für die Vermittlung eines wohligen Gefühles der Bedrohung in den strategischen Zirkeln durch einen Vortrag bei Rednern vom Kaliber Huntington bei mindestens 20 000 US $.

Vitale Anachronismen

Dieses fortgesetzte Wettrüsten der USA mit sich selbst kostet jeden Amerikaner und jede Amerikanerin etwa 2000 DM pro Jahr. Der politische Autismus der rüstungsindustriellen Dynamik in den USA wird am Beispiel der massiven Forderung im Kongreß nach einem Raketenabwehrsystem deutlich. Kein "rogue state" wird in den nächsten 20 Jahren über einsatzfähige Landstreckenraketen verfügen, es sei denn, die USA hätten zuvor die Aufrüstung eines solchen Staates betrieben. Allein Israel könnte daher theoretisch eine solche Bedrohungsoption entwickeln. Dennoch gibt es gegenwärtig eine Mehrheit im Kongreß, die die Rüstungsausgaben erneut steigern möchte, um den Bau des Raketenabwehrsystems definitiv anzugehen. Jobs im Wahlkreis und die trotzige Bewahrung des Bedrohungsgefühles zur Legitimation des fortgesetzten Wettrüstens ohne Partner gehören zu den Triebkräften dieser Rüstungsdynamik.

Da erscheint die durch keine Bedrohungslage ("Deutschland von Freunden umzingelt.") in ihrem gegenwärtigen Umfang legitimierte Bundeswehr fast schon als preiswertes Sonderangebot. Mit einer jährlichen Zwangsabgabe von etwa 600 DM sind wir dabei. Ohne kohärentes Aufgabenprofil der Bundeswehr sind die etwa 50 Mrd. DM Wehretat, im wesentlichen das Produkt bürokratischer Macht- und Abwehrkämpfe der Teilstreitkräfte. Von einem manchmal unterstellten zielgerichteten Umbau in Richtung Interventionskapazität kann trotz der Vokabel Krisenreaktionskräfte nicht gesprochen werden. Denn noch ist die Beschaffung der notwendigen Lufttransportkapazitäten nicht in den Haushalt eingestellt, während viel Überflüssiges einfach fortgeschrieben wird. Wohin soll z.B. der milliardenteure Eurofighter Light fliegen? Die Grenzen des friedlich geeinten Europa erreicht er jedenfalls nicht. Gleichwohl erweisen sich die militärischen Milliarden dann als Papiertiger, wenn es darum geht, Menschenrechts- oder flagranten Völkerrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten. Darüber kann auch die Inszenierung des 2. Golfkrieges nicht hinwegtäuschen. Kapituliert hat man, als es galt, in Somalia mit militärischer Gewalt einen zentralen Staat zu revitaliseren. Dem Medienereignis des Einmarsches am Strand bei Mogadischu folgte der klägliche Rückzug. Wegschauen war allgemein die Parole während des vorab angekündigten Gemetzels in Ruanda. Das spätere Eingreifen Frankreichs suchte nationale Interessen zu wahren und erwies sich als konterproduktiv im Hinblick auf die Fortsetzung der Konflikte. Das Versagen der großen Militärapparate ist nicht nur dadurch verursacht, daß sie nur sehr träge auf die tiefgreifenden Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen und den sich daraus ergebenden militärischen Aufgaben reagieren. Vielmehr ist die Absicherung von Interessen dabei, sich auf andere Akteure wie Warlords, Söldner und private Sicherheitsdienstleistungsunternehmen zu verlagern. Während die Nixon-Doktrin[7] auf kostensenkendes zwischenstaatliches "outsourcing" der militärischen Aufwendungen orientierte, gibt es heute vermehrt Indizien dafür, daß private Formen der Sicherheitsproduktion an Bedeutung gewinnen. Sandline International, Executive Outcomes, MPRI gehören zu dieser rasch wachsenden Sicherheitsindustrie, die für sehr unterschiedliche Auftraggeber klassische militärische Aufgaben übernehmen. Um den Blick für diese Entwicklung zu schärfen, muß man zunächst die definitorische Zwangsjacke der politologischen Definition von Krieg abstreifen, weil sie nicht länger geeignet ist, die gravierendsten Formen gesellschaftlicher Gewalt zu fassen.

Blind dem Modell einer Weltgemeinschaft souveräner Staaten folgend konsumiert die Politologenzunft weltweit die Höhe von Militärausgaben, die in den Jahrbüchern von SIPRI, BICC und ACDA protokolliert werden und diskutiert über angemessene oder zu hohe Aufwendungen. Daß es sich bei den Staaten häufig nur um von den Eliten zum eigenen Vorteil betriebene Unternehmungen handelt oder daß das Militär oft ausschließlich Polizeifunktionen ausübt, stört die Kriegsursachen- und Entwicklungsforscher bei ihren korrelationsstatistischen Untersuchungen nicht. Aber realgesellschaftlich repräsentieren diejenigen, die in der UN-Generalversammlung ein Mandat wahrnehmen, heute so unterschiedliche Strukturen, jeweils mit dem Firmenschild "Staat", daß es analytisch schon deshalb kaum fruchtbar sein kann, eine Definition von Krieg daran zu binden.

Entgrenzungen

Die Wahrnehmung ökonomischer Interessen ist längst nicht mehr an eine politische territoriale Kontrolle gebunden, so daß ökonomische Interessen kaum mehr darauf verwiesen sind, nationalstaatliche Militärpotentiale für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die für die Wahrnehmung ökonomischer Interessen notwendige Sicherheit muß zunehmend im globalen Wettbewerb der Standorte kosteneffizient gewährleistet werden. Dies führt zur Beteiligung von substaatlichen und immer häufiger auch privaten Agenturen an der Produktion von Sicherheit für Wirtschaftsaktivitäten. Auch der Sonderfall der in Afrika stationierten französischen Truppen, die unter anderem als Schutztruppe in Bereitschaft für den staatlichen Erdölkonzern ELF und andere französiche Interessen fungierten, ist ein Auslaufmodell. Auch der ELF-Konzern wird privatisiert und Frankreich zieht seine Truppen zunehmend ab.

Die zunehmende Segmentierung der Weltgesellschaft schlägt sich in der globalen Sicherheitsgarantie für die Bürger aus den dominanten Industriestaaten nieder, die in bestimmten Fällen bis zur Androhung militärischer Intervention reicht. Dadurch wird die individuelle Sicherheit selektiv zu einem global geltenden Attribut der Staatsangehörigkeit, während der territoriale Bezug immer mehr an Bedeutung verliert. Besonders ausgeprägt ist dieses interventionistische Rechtsverständnis in den Vereinigten Staaten. Aus der Perspektive der Opfer von gesellschaftlicher Gewalt war es immer schon ohne Belang, ob sie als kriegerisch bezeichnet wurde. Gleiches gilt für Gewaltakte und deren Androhung, die ökonomische Transaktionen jedweder Art stören, wenn man von dem versicherungsrechtlichen Aspekt[8] absieht. Tatsächlich ist eine Entgrenzung der unterschiedlichen Formen der Gewalt und damit auch des Krieges zu beobachten. Die Entwicklung in El Salvador nach Beendigung des Bürgerkrieges ist ein Indiz für die Relativierung des Krieges, nicht aber der gesellschaftlichen Gewalt. Es werden dort mehr Menschen ermordet als zu Zeiten des Bürgerkrieges[9]. Als Indiz für diese Entwicklung kann auch die alltägliche, bewußte Verwendung der Vokabel Krieg für politische Strategien der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung gelten. Drogen und Kriminalität sind Reizwörter im populistischen Diskurs für einen autoritären Staat, denen man den Krieg erklärt hat. Diese Kriege gegen Drogen und Kriminalität zielen beide auf eine Vermischung der Bedrohung von innen und außen. Sie sind zudem im amerikanischen Diskurs beide eng miteinander verzahnt.

Der Krieg gegen die Drogen ist ein weltweit geführter Krieg. Seine Protagonisten wollen ihn bedingungslos führen. Er erlaubt zum einen weltweite geheimdienstliche Infiltration, zum anderen aber macht das weitgehend wirkungslose Spektakel dieses weltweiten Krieges die innergesellschaftliche Drogenproblematik zu einer "importierten" Erscheinung und macht Amerika zum Opfer des fremden Bösen. Diese Schuldzuweisung verschleiert die innergesellschaftliche Auseinandersetzung um Partizipation und gesellschaftlichen Ausschluß, deren Ausdruck Drogen und Kriminalität auch sind. Der amerikanische Drogenmarkt und kapitalstarke internationale Kriminalität bilden tatsächlich eine Symbiose, deren Umsatz (Bruttokriminalprodukt) jährlich auf 400 Mrd. US $ geschätzt wird. Daß beide auch eine Funktion der rigorosen amerikanischen Drogenkonsumverbote sind und ein Teil der Kriminaliät hierdurch erst induziert wird, wird nicht thematisiert. Kriminalität und Drogen werden als externe Bedrohung (illegale Einwanderung und illegale Importe) der amerikanischen Gesellschaft begriffen und legitimieren Abwehrmaßnahmen nach innen und präventive Interventionen nach außen. Um die Umsetzung dieser Abwehr kommt es zu Rivalitäten zwischen den verschiedenen Sicherheitsakteuren wie Armee, Polizei und private Sicherheitsindustrie.

Ausgrenzungen

Über acht Millionen AmerikanerInnen haben sich bereits in die Wagenburgen der "gated communities"[10](abschlossene Hochsicherheitswohngebiete) zurückgezogen. Am anderen Ende des konfrontativen gesellschaftlichen Spektrums befinden sich weit über eine Million Menschen in Gefängnissen und weitere Millionen in anderen Formen des Strafvollzuges. Die gesamte Gesellschaft befindet sich in einem polarisierenden aktiven und passiven Aufrüstungsprozeß, der sich in gesellschaftlicher Segregation und Privatisierung von Polizeifunktionen niederschlägt. Die lauten Meldungen über die dauerhaft wachsende amerikanische Wirtschaft täuschen über den stabilen gesellschaftlichen Ausschluß u.a. der "inner city" hinweg. Die gesellschaftliche Organisation in der Ausgrenzung ist gewaltgereguliert und entfaltet territoriale Strukturen, die von konkurrierenden Banden beherrscht werden. Statistisch betrachtet gibt es mehr tote und verletzte Opfer diesen innergesellschaftlichen Gewaltmanifestationen als in den letzten Kriegen der Vereinigten Staaten. Ökonomisch wird die Minderung der Militärausgaben durch das rasante Anwachsen der privaten Sicherheitsaufwendungen ("target hardening" und private Polizei) und die explodierenden Kosten des Strafvollzuges mehr als kompensiert.

Ein Blick auf die Megastädte der Dritten Welt legt dort amerikanische Verhältnisse in häufig extremer Steigerung frei. Gesellschaftliche Segmentierung, eine expandierende private Sicherheitsindustrie, massiver gesellschaftlicher Ausschluß, Schattenwirtschaft, zunehmende Gewaltregulierung ökonomischer Transaktionen. Der Umweg über die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA, um Orte und Akteure von Kriegen zu beschreiben, soll deutlich machen, daß die Konfliktursachen keineswegs exotischer Natur sind. Ausschluß nicht benötigter Arbeitskraft zu niedrigen Kosten ist das zentrale Ordnungsproblem des neoliberalen Paradigmas, das hinter dem aktuellen Globalisierungsprozeß steht. Es ist allen Staaten gemein und generiert je nach der gesellschaftlichen Ausgangslage sehr unterschiedliche, fast immer mit Gewalt verknüpfte massive Ausgrenzung.

Ausschluß und Identität

Der Ausschluß aus der regulären Ökonomie d.h. sowohl des modernen Sektors als auch der traditionalen subsistenzwirtschaftlichen Sektoren eines weltweit wachsenden Anteils der nachwachsenden Generation bildet die funktionale Hefe für die Ausbreitung gesellschaftlicher Gewalt, die die Keime für die Entwicklung bewaffneter Konflikte enthält. Die dramatischen gesellschaftlichen Umbrüche im ehemals sozialistischen Lager und der rasante Modernisierungsdruck der neo-liberalen ökonomischen Modernisierung verhindern die Weitergabe zur jeweils folgenden Generation von Selbstvewußtsein stiftenden Identitäten, die mit einer Beteiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion in der regulären, den Staat konstituierenden Ökonomie verbunden sind.

Verwiesen auf die informellen, illegalen Felder der gesellschaftlichen Reproduktion bildet die nachwachsende Generation eine große, in manchen Ländern (Algerien) mehrheitliche "Reservearmee" im doppelten Sinne des Wortes. Es entstehen gesellschaftliche Sektoren mit einer Tendenz zur territorialen Segmentierung in denen Kriminalität und Gewalt die sozialen Normen bilden. Ökonomische Transaktionen in der illegalen Ökonomie unterliegen einer gewaltgesteuerten Ordnung. Sozialer Aufstieg, Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung sind an eineEinordnung in Gewalthierarchien gebunden.

In Abwehr der gewaltgesteuerten Ausbeutung und zum Selbstschutz bilden gemeinsame Herkunft, Religion, die Wiederbelebung oder auch Konstruktion ethnischer Identität Ansätze einer Gruppenbildung, deren Eigendynamik rasch zur Bildung von Ansprüchen auf bestimmte ökonomische Aktivitäten und Territorium im Konflikt mit anderen Gruppen führt, der gewaltförmig ausgetragen wird. In diesem Moment beginnt die Entfaltung des Potentials der wachsenden Reserveearmee. Die Konstruktion einer identitätsstiftenden Idee (Religion, Ethnie u.a.m.), die andere ausgrenzt, wird zum Vehikel eines gemeinsamen Überlebens- und Aufstiegkampfes. Häufig aber ist der Ausgangspunkt einer solchen Idee ein instrumentelles Interesse eines Syndikates in der illegalen Ökonomie, das zynisch darauf setzt, so eine unliebsame Konkurrenz auszuschalten. Dies schließt freilich eine spätere Verselbständigung der zunächst instrumentellen Ideologie nicht aus. Aus der Vielzahl derartiger Konstellationen entwickeln sich bewaffnete Konflikte, deren Dynamik sich immer häufiger verselbständigt, weil diese bewaffneten Konflikte immer häufiger keinen realistischen Zielhorizont mehr haben, wie die Übernahme des Staates und Schaffung einer alternativen Gesellschaft. Selbst dort wo noch immer die Parole Befreiung lautet, ist der instrumentelle Charakter dieser Losung nur allzu deutlich. So florieren Drogenanbau und —handel in Afghanistan unter der Kontrolle der Taliban.

Andererseits glauben viele Beobachter, daß es nur Verlierer in diesen "unendlichen" Konflikten gibt und schließen daraus, daß diese Einsicht das Potential einer Konfliktbeendigung auf dem Verhandlungswege in sich birgt. Die Fortsetzung dieser Kriege nach jedem vereinbarten Waffenstillstand spricht dagegen.

Genaueres Hinsehen führt zu einer Differenzierung des Kriegsbildes. Es stellt sich heraus, daß in den meisten Kriegen bestimmte Gruppen wirtschaftlich profitieren, die keinerlei Perspektive für sich selbst in der Rückkehr zu einer zivilen Friedensökonomie sehen. Dies trifft sowohl für die Herren der Kriegsökonomie zu als auch für die Kämpfenden, bei denen es sich regelhaft um junge Männer handelt, die in ihrem Leben keine Fertigkeit erlernt haben, mit der sie sich an einer zivilen Gesellschaft beteiligen können.

Der analytische Blick muß sich daher auf die wirtschaftlichen Grundlagen der bewaffneten Konflikte richten. Da sind zum einen Rohstoffe verschiedenster Art, die man vom beherrschten Territorium durch die korrupten Grauzonen des internationalen Handels auf dem Weltmarkt in Wert setzen kann. Zum anderen bietet die territoriale Kontrolle die Möglichkeit einer profitablen Beteiligung am weltweiten Drogenhandel. In anderen Fällen gibt es eine reiche Diaspora in den westlichen Industrieländern, die man durch eine Ethnisierung des Konfliktes dauerhaft anzapfen kann. Schließlich ist mittlerweile deutlich geworden, daß nicht wenige Kriegsherren in langandauernden Konflikten die internationale humanitäre Hilfe mißbrauchen und mit den gelieferten Gütern beste Geschäfte machen. Fragt man nach den wahrscheinlichen Orten offener gesellschaftlicher Gewalt und bewaffneten Konflikten, dann wird man nach der Stärke der legitimen Rolle des Staates und dem Ausmaß der gesellschaftlichen Segmentierung fragen müssen. Insbesondere wird man die Rolle der Agenturen untersuchen müssen, die für die Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopoles zuständig sind. Für eine erschreckend große Zahl von Staaten gilt, daß Polizei (und Militär, das ausschließlich auf die innere Sicherheit ausgerichtet ist) für partikulare Interessen mißbraucht wird, unterbezahlt und korrupt ist und nicht selten, eine quasi-kriminelle Organisation bildet. Für einen Teil der Bevölkerung ist die Polizei zur Bedrohung geworden und ein anderer Teil hat sich mit privaten Armeen umgeben. Ein gesellschaftlicher Aufrüstungsprozeß kommt in Gange, der im Falle Kolumbiens zu einem dauerhaften völlig unübersichtlichen Bürger"krieg" oder besser einer allgemeinen diffusen Gewaltsituation geführt hat. Indikatoren sind die systematisch in Brasilien und Zentralamerika verübten Morde durch die Polizei, die Tatsache, daß vor allem ehemalige kommunistische Staaten die Kontrolle über ihre Arsenale verloren haben, aus denen die Schwarzmärkte für militärisches Gerät alimentiert werden, sowie die Beobachtungen der Doppelrolle von Polizei und Militär in Teilen Afrikas ("sobels" =tagsüber Soldaten, nachts Rebellen; pobels =tagsüber Polizisten, nachs Rebellen). Fragt man nach den Akteuren, so muß man nach Unternehmern in der illegalen Ökonomie in Verbindung mit disponiblen Reservearmeen junger perspektivloser Männer fragen. Gesellschaftliche Umbrüche und dramatische Reduzierung staatlicher Reichweite und Implosion usurpierter Staaten bilden das Umfeld, in dem solche Unternehmer zu Kriegsherren (Somalia) werden.

Übergreifendes Merkmal der bewaffneten Konflikte ist, daß immer seltener eine Partei eine ernsthafte gesamtstaatliche politische Alternative anstrebt, was das erfolgreiche Betreiben von Produktionsexklaven für den Weltmarkt durch Warlords befördert. Vielleicht zeigt dies ja ein Ende oder eine Modifikation der Epoche der Nationalstaaten an, die durch eine rationelle Privatisierung der notwendigen Sicherheitsdienstleistungen zur Aufrechterhaltung ökonomisch interessanter Sektoren gekennzeichnet ist.

Fußnoten

[1] Ausführlich hierzu: Militärpolitik Dokumentation 63/64 12.Jg. 1988, Kontrollierte Intervention Destabilisierung, unerklärte Kriege und Militäraktionen gegen die Dritte Welt.

[2] Paul Mann, Pentagon Called Unprepared For 'Post-Modern' Conflict, in: AW 27.4.98 S.54-56. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations?, in: Foreign Affairs, Summer 1993, später als Buch unter gleichen Titel, auch in deutscher Übersetzung.

[3] International vergleichend hierzu: Didier Bigo, Bond of Union: military involvement in internal security, ISA-convention March 1998, S. 24f.

[4] Dies war die Vorgabe des sog. "bottom up review", der Vorgaben für die Anpassung der Streitkräfte an das post-bipolare Zeitalter machen sollte. Siehe u.a.: Institute for National Strategic Studies: Strategic Assessment 1995, U.S. Security Challenges in Transition, Washington D.C. 1995. bes. S.1-17.

[5] Schurken- oder Pariahstaat. Eine Klassifikation der U.S. Außenpolitik für Staaten mit denen man sich in einem unterschwelligen Konflikt befindet und deren internationale Isolation man mit aller Kraft betreibt.

[6] Diese Doktrin zielte darauf ab, die auf die unterschiedlichsten Länder des westlichen Lagers Druck auszuüben, sich an den Kosten der bi-polaren Rüstungsdynamik zu beteiligen. Der Erfolg der Nixon-Doktrin läßt an dem starken Anwachsen der amerikanischen Rüstungsexporte mit Beginn der siebziger Jahren ablesen.

[7] Der Begriff Krieg wird so lange wie möglich gemieden, weil damit Versicherungsleistungen entfallen. So war die Sprachregelung im der Krieg in Malaya immer "emergency", damit die Straße von Malaga für den internationalen Schiffsverkehr nutzbar blieb.

[8] Hierzu: Sabine Kurtenbach, Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, in: Jahrbuch 3.Welt 1999, München (Beck) i.E. Siehe auch Sonderheft zur Gewalt in Zentralamerika: Estudios Centro-americanos, El Salvador 1997. Vincent Boland, Earnings from organised crime reach $ 1000 bn, Half of 'gross criminal product' generated in the US, money laundering specialist says, in: Financial Times 14.2.1997 S.1.

[9] Hierzu: E.Blakely, M. Snyder, Fortress America Gated Communities in the United States, Washington D.C.(rookings) 1997.

[10] Hierzu: François Jean, Jean-Christophe Rufin eds. Les économies des guerres, Paris (Pluriel) 1996.